Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

zu schreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin-
terlassener Schriften seines Freundes in den Garten.

Es war ein schwüler Nachmittag. Nolten trat
in ein sogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt-
lich in der alt-französischen Gartenkunst gewisse plan-
mäßig, aber scheinbar willkürlich in einander geschlun-
gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher
sich schwer wieder finden läßt, wenn man erst eine
Strecke weit in's Innere gedrungen ist, weil die grü-
nen, meist spiralförmig um einander laufenden und
durch unzählige Zugänge unter sich verbundenen Ge-
mächer fast alle einander gleichen. Die Wege sind
sehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere
geschnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen.
Der Maler schritt in diesen angenehmen Schatten,
seinen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und
nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref-
fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine bestimmte Rich-
tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes
Gemach, worauf die verschiedenen Wege von allen
Seiten zuführen; es ist oben bis auf eine schmale
Oeffnung überwölbt, und diese sanfte Dämmerung,
die Einsamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen
einer Fliege die tiefe süße Mittagstille unterbrach,
Alles stimmte vollkommen zu den Gefühlen unseres
Freundes. Er sezte sich auf eine Bank und schlug
die Mappe auf. Verschiedene Aufsätze fanden sich da,
meistens persönlichen Inhalts, Poesien, kleine Diarien,

zu ſchreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin-
terlaſſener Schriften ſeines Freundes in den Garten.

Es war ein ſchwüler Nachmittag. Nolten trat
in ein ſogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt-
lich in der alt-franzöſiſchen Gartenkunſt gewiſſe plan-
mäßig, aber ſcheinbar willkürlich in einander geſchlun-
gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher
ſich ſchwer wieder finden läßt, wenn man erſt eine
Strecke weit in’s Innere gedrungen iſt, weil die grü-
nen, meiſt ſpiralförmig um einander laufenden und
durch unzählige Zugänge unter ſich verbundenen Ge-
mächer faſt alle einander gleichen. Die Wege ſind
ſehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere
geſchnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen.
Der Maler ſchritt in dieſen angenehmen Schatten,
ſeinen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und
nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref-
fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine beſtimmte Rich-
tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes
Gemach, worauf die verſchiedenen Wege von allen
Seiten zuführen; es iſt oben bis auf eine ſchmale
Oeffnung überwölbt, und dieſe ſanfte Dämmerung,
die Einſamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen
einer Fliege die tiefe ſüße Mittagſtille unterbrach,
Alles ſtimmte vollkommen zu den Gefühlen unſeres
Freundes. Er ſezte ſich auf eine Bank und ſchlug
die Mappe auf. Verſchiedene Aufſätze fanden ſich da,
meiſtens perſönlichen Inhalts, Poeſien, kleine Diarien,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0240" n="554"/>
zu &#x017F;chreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin-<lb/>
terla&#x017F;&#x017F;ener Schriften &#x017F;eines Freundes in den Garten.</p><lb/>
          <p>Es war ein &#x017F;chwüler Nachmittag. <hi rendition="#g">Nolten</hi> trat<lb/>
in ein &#x017F;ogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt-<lb/>
lich in der alt-franzö&#x017F;i&#x017F;chen Gartenkun&#x017F;t gewi&#x017F;&#x017F;e plan-<lb/>
mäßig, aber &#x017F;cheinbar willkürlich in einander ge&#x017F;chlun-<lb/>
gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;chwer wieder finden läßt, wenn man er&#x017F;t eine<lb/>
Strecke weit in&#x2019;s Innere gedrungen i&#x017F;t, weil die grü-<lb/>
nen, mei&#x017F;t &#x017F;piralförmig um einander laufenden und<lb/>
durch unzählige Zugänge unter &#x017F;ich verbundenen Ge-<lb/>
mächer fa&#x017F;t alle einander gleichen. Die Wege &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;ehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere<lb/>
ge&#x017F;chnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen.<lb/>
Der Maler &#x017F;chritt in die&#x017F;en angenehmen Schatten,<lb/>
&#x017F;einen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und<lb/>
nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref-<lb/>
fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine be&#x017F;timmte Rich-<lb/>
tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes<lb/>
Gemach, worauf die ver&#x017F;chiedenen Wege von allen<lb/>
Seiten zuführen; es i&#x017F;t oben bis auf eine &#x017F;chmale<lb/>
Oeffnung überwölbt, und die&#x017F;e &#x017F;anfte Dämmerung,<lb/>
die Ein&#x017F;amkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen<lb/>
einer Fliege die tiefe &#x017F;üße Mittag&#x017F;tille unterbrach,<lb/>
Alles &#x017F;timmte vollkommen zu den Gefühlen un&#x017F;eres<lb/>
Freundes. Er &#x017F;ezte &#x017F;ich auf eine Bank und &#x017F;chlug<lb/>
die Mappe auf. Ver&#x017F;chiedene Auf&#x017F;ätze fanden &#x017F;ich da,<lb/>
mei&#x017F;tens per&#x017F;önlichen Inhalts, Poe&#x017F;ien, kleine Diarien,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[554/0240] zu ſchreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin- terlaſſener Schriften ſeines Freundes in den Garten. Es war ein ſchwüler Nachmittag. Nolten trat in ein ſogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt- lich in der alt-franzöſiſchen Gartenkunſt gewiſſe plan- mäßig, aber ſcheinbar willkürlich in einander geſchlun- gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher ſich ſchwer wieder finden läßt, wenn man erſt eine Strecke weit in’s Innere gedrungen iſt, weil die grü- nen, meiſt ſpiralförmig um einander laufenden und durch unzählige Zugänge unter ſich verbundenen Ge- mächer faſt alle einander gleichen. Die Wege ſind ſehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere geſchnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen. Der Maler ſchritt in dieſen angenehmen Schatten, ſeinen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref- fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine beſtimmte Rich- tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes Gemach, worauf die verſchiedenen Wege von allen Seiten zuführen; es iſt oben bis auf eine ſchmale Oeffnung überwölbt, und dieſe ſanfte Dämmerung, die Einſamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen einer Fliege die tiefe ſüße Mittagſtille unterbrach, Alles ſtimmte vollkommen zu den Gefühlen unſeres Freundes. Er ſezte ſich auf eine Bank und ſchlug die Mappe auf. Verſchiedene Aufſätze fanden ſich da, meiſtens perſönlichen Inhalts, Poeſien, kleine Diarien,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/240
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/240>, abgerufen am 25.11.2024.