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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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eine Zeitlang ohne weitere Erklärung um einander
und Jeder schien die Leiche nur in seinem eignen Sinne
zu betrachten.

"Ihr Schmerz sagt mir," nahm der Präsident
das Wort, nachdem Perse sich entfernt hatte, "wie
nahe Ihnen dieser theure Mann im Leben müsse ge-
standen haben. Ich kann mich eines näheren Verhält-
nisses zu ihm nicht rühmen, doch ist meine Theilnahme
an diesem ungeheuren Fall so wahr und innig, daß ich
nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegen-
wart" -- "O seyen Sie mir willkommen!" rief der
Maler, durch eine so unverhoffte Annäherung in tief-
ster Seele erquickt, "ich bin hier fremd, ich suche Mit-
gefühl, -- und ach, wie rührt, wie überrascht es mich,
solch' eine Stimme und aus solchem Munde hier in
diesem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht
dunkel genug wählen konnte, um sich und seinen gan-
zen Werth und alle Lieb' und Treue, die er Andern
schuldig war, auf immer zu vergraben."

Des Präsidenten Auge hing einige Sekunden
schweigend an Theobalds Gesicht und kehrte dann
nachdenklich zu dem Todten zurück.

"Ist's möglich?" sprach er endlich, "seh' ich hier
die Reste eines Mannes, der eine Welt voll Scherz
und Lust in sich bewegte und zauberhelle Frühlings-
gärten der Phantasie sinnvoll vor uns entfaltete!
Ach, wenn ein Geist, den doch der Genius der

eine Zeitlang ohne weitere Erklärung um einander
und Jeder ſchien die Leiche nur in ſeinem eignen Sinne
zu betrachten.

„Ihr Schmerz ſagt mir,“ nahm der Präſident
das Wort, nachdem Perſe ſich entfernt hatte, „wie
nahe Ihnen dieſer theure Mann im Leben müſſe ge-
ſtanden haben. Ich kann mich eines näheren Verhält-
niſſes zu ihm nicht rühmen, doch iſt meine Theilnahme
an dieſem ungeheuren Fall ſo wahr und innig, daß ich
nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegen-
wart“ — „O ſeyen Sie mir willkommen!“ rief der
Maler, durch eine ſo unverhoffte Annäherung in tief-
ſter Seele erquickt, „ich bin hier fremd, ich ſuche Mit-
gefühl, — und ach, wie rührt, wie überraſcht es mich,
ſolch’ eine Stimme und aus ſolchem Munde hier in
dieſem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht
dunkel genug wählen konnte, um ſich und ſeinen gan-
zen Werth und alle Lieb’ und Treue, die er Andern
ſchuldig war, auf immer zu vergraben.“

Des Präſidenten Auge hing einige Sekunden
ſchweigend an Theobalds Geſicht und kehrte dann
nachdenklich zu dem Todten zurück.

„Iſt’s möglich?“ ſprach er endlich, „ſeh’ ich hier
die Reſte eines Mannes, der eine Welt voll Scherz
und Luſt in ſich bewegte und zauberhelle Frühlings-
gärten der Phantaſie ſinnvoll vor uns entfaltete!
Ach, wenn ein Geiſt, den doch der Genius der

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[510/0196] eine Zeitlang ohne weitere Erklärung um einander und Jeder ſchien die Leiche nur in ſeinem eignen Sinne zu betrachten. „Ihr Schmerz ſagt mir,“ nahm der Präſident das Wort, nachdem Perſe ſich entfernt hatte, „wie nahe Ihnen dieſer theure Mann im Leben müſſe ge- ſtanden haben. Ich kann mich eines näheren Verhält- niſſes zu ihm nicht rühmen, doch iſt meine Theilnahme an dieſem ungeheuren Fall ſo wahr und innig, daß ich nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegen- wart“ — „O ſeyen Sie mir willkommen!“ rief der Maler, durch eine ſo unverhoffte Annäherung in tief- ſter Seele erquickt, „ich bin hier fremd, ich ſuche Mit- gefühl, — und ach, wie rührt, wie überraſcht es mich, ſolch’ eine Stimme und aus ſolchem Munde hier in dieſem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht dunkel genug wählen konnte, um ſich und ſeinen gan- zen Werth und alle Lieb’ und Treue, die er Andern ſchuldig war, auf immer zu vergraben.“ Des Präſidenten Auge hing einige Sekunden ſchweigend an Theobalds Geſicht und kehrte dann nachdenklich zu dem Todten zurück. „Iſt’s möglich?“ ſprach er endlich, „ſeh’ ich hier die Reſte eines Mannes, der eine Welt voll Scherz und Luſt in ſich bewegte und zauberhelle Frühlings- gärten der Phantaſie ſinnvoll vor uns entfaltete! Ach, wenn ein Geiſt, den doch der Genius der

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/196>, abgerufen am 03.05.2024.