Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen
selbst im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge-
ben möchten, desto entschiedener abweisen.)

"O wenn du wüßtest," rief Theobald Agnesen
zu, "was dieser Mann mir gewesen, hätt' ich dir nur
erst entdeckt, was auch Du ihm schuldig bist, du wür-
dest mich fürwahr nicht schelten, wenn mein Schmerz
ohne Grenzen ist!" Agnes wagte gegenwärtig nicht
zu fragen, was mit diesen Worten gemeint sey, und
sie konnte ihm nicht widersprechen, als er das unru-
higste Verlangen bezeigte, den Verstorbenen selber zu
sehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß,
für die Bestattung seines Freundes zur wichtigsten
Pflicht. Larkens selbst hatte ihm dießfalls schriftlich
Mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald
mußte auf einen sehr wohlgeordneten Zustand seiner
Vermögensangelegenheiten schließen. Vor allen Din-
gen nahm er Rücksprache mit der obrigkeitlichen Be-
hörde, und einiger Papiere glaubte er sich ohne Wei-
teres versichern zu müssen.

Indessen war es bereits spät am Tage und so trat
er in einer Art von Betäubung den Weg nach der
Stätte an, wo der traurigste Anblick seiner wartete.

Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger
Gäßchen vor das Haus eines Tischlers, bei welchem
sich Larkens seit einigen Monaten förmlich in die
Arbeit gegeben hatte. Der Meister, ein würdig aus-
sehender, stiller Mann, empfing ihn mit vielem An-

harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen
ſelbſt im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge-
ben möchten, deſto entſchiedener abweiſen.)

„O wenn du wüßteſt,“ rief Theobald Agneſen
zu, „was dieſer Mann mir geweſen, hätt’ ich dir nur
erſt entdeckt, was auch Du ihm ſchuldig biſt, du wür-
deſt mich fürwahr nicht ſchelten, wenn mein Schmerz
ohne Grenzen iſt!“ Agnes wagte gegenwärtig nicht
zu fragen, was mit dieſen Worten gemeint ſey, und
ſie konnte ihm nicht widerſprechen, als er das unru-
higſte Verlangen bezeigte, den Verſtorbenen ſelber zu
ſehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß,
für die Beſtattung ſeines Freundes zur wichtigſten
Pflicht. Larkens ſelbſt hatte ihm dießfalls ſchriftlich
Mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald
mußte auf einen ſehr wohlgeordneten Zuſtand ſeiner
Vermögensangelegenheiten ſchließen. Vor allen Din-
gen nahm er Rückſprache mit der obrigkeitlichen Be-
hörde, und einiger Papiere glaubte er ſich ohne Wei-
teres verſichern zu müſſen.

Indeſſen war es bereits ſpät am Tage und ſo trat
er in einer Art von Betäubung den Weg nach der
Stätte an, wo der traurigſte Anblick ſeiner wartete.

Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger
Gäßchen vor das Haus eines Tiſchlers, bei welchem
ſich Larkens ſeit einigen Monaten förmlich in die
Arbeit gegeben hatte. Der Meiſter, ein würdig aus-
ſehender, ſtiller Mann, empfing ihn mit vielem An-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0193" n="507"/>
harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge-<lb/>
ben möchten, de&#x017F;to ent&#x017F;chiedener abwei&#x017F;en.)</p><lb/>
          <p>&#x201E;O wenn du wüßte&#x017F;t,&#x201C; rief <hi rendition="#g">Theobald Agne&#x017F;en</hi><lb/>
zu, &#x201E;was die&#x017F;er Mann mir gewe&#x017F;en, hätt&#x2019; ich dir nur<lb/>
er&#x017F;t entdeckt, was auch <hi rendition="#g">Du</hi> ihm &#x017F;chuldig bi&#x017F;t, du wür-<lb/>
de&#x017F;t mich fürwahr nicht &#x017F;chelten, wenn mein Schmerz<lb/>
ohne Grenzen i&#x017F;t!&#x201C; <hi rendition="#g">Agnes</hi> wagte gegenwärtig nicht<lb/>
zu fragen, was mit die&#x017F;en Worten gemeint &#x017F;ey, und<lb/>
&#x017F;ie konnte ihm nicht wider&#x017F;prechen, als er das unru-<lb/>
hig&#x017F;te Verlangen bezeigte, den Ver&#x017F;torbenen &#x017F;elber zu<lb/>
&#x017F;ehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß,<lb/>
für die Be&#x017F;tattung &#x017F;eines Freundes zur wichtig&#x017F;ten<lb/>
Pflicht. <hi rendition="#g">Larkens</hi> &#x017F;elb&#x017F;t hatte ihm dießfalls &#x017F;chriftlich<lb/>
Mehreres angedeutet und empfohlen, und <hi rendition="#g">Theobald</hi><lb/>
mußte auf einen &#x017F;ehr wohlgeordneten Zu&#x017F;tand &#x017F;einer<lb/>
Vermögensangelegenheiten &#x017F;chließen. Vor allen Din-<lb/>
gen nahm er Rück&#x017F;prache mit der obrigkeitlichen Be-<lb/>
hörde, und einiger Papiere glaubte er &#x017F;ich ohne Wei-<lb/>
teres ver&#x017F;ichern zu mü&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Inde&#x017F;&#x017F;en war es bereits &#x017F;pät am Tage und &#x017F;o trat<lb/>
er in einer Art von Betäubung den Weg nach der<lb/>
Stätte an, wo der traurig&#x017F;te Anblick &#x017F;einer wartete.</p><lb/>
          <p>Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger<lb/>
Gäßchen vor das Haus eines Ti&#x017F;chlers, bei welchem<lb/>
&#x017F;ich <hi rendition="#g">Larkens</hi> &#x017F;eit einigen Monaten förmlich in die<lb/>
Arbeit gegeben hatte. Der Mei&#x017F;ter, ein würdig aus-<lb/>
&#x017F;ehender, &#x017F;tiller Mann, empfing ihn mit vielem An-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[507/0193] harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen ſelbſt im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge- ben möchten, deſto entſchiedener abweiſen.) „O wenn du wüßteſt,“ rief Theobald Agneſen zu, „was dieſer Mann mir geweſen, hätt’ ich dir nur erſt entdeckt, was auch Du ihm ſchuldig biſt, du wür- deſt mich fürwahr nicht ſchelten, wenn mein Schmerz ohne Grenzen iſt!“ Agnes wagte gegenwärtig nicht zu fragen, was mit dieſen Worten gemeint ſey, und ſie konnte ihm nicht widerſprechen, als er das unru- higſte Verlangen bezeigte, den Verſtorbenen ſelber zu ſehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß, für die Beſtattung ſeines Freundes zur wichtigſten Pflicht. Larkens ſelbſt hatte ihm dießfalls ſchriftlich Mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald mußte auf einen ſehr wohlgeordneten Zuſtand ſeiner Vermögensangelegenheiten ſchließen. Vor allen Din- gen nahm er Rückſprache mit der obrigkeitlichen Be- hörde, und einiger Papiere glaubte er ſich ohne Wei- teres verſichern zu müſſen. Indeſſen war es bereits ſpät am Tage und ſo trat er in einer Art von Betäubung den Weg nach der Stätte an, wo der traurigſte Anblick ſeiner wartete. Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger Gäßchen vor das Haus eines Tiſchlers, bei welchem ſich Larkens ſeit einigen Monaten förmlich in die Arbeit gegeben hatte. Der Meiſter, ein würdig aus- ſehender, ſtiller Mann, empfing ihn mit vielem An-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/193
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/193>, abgerufen am 03.05.2024.