Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

serer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine
Rechenschaft geben und denen wir nicht widerstehen
können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum
Schlaf ohne Bewußtseyn und sind nachher ihn zu be-
zeichnen nicht im Stande: so ward in Agnes nach
und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit
ihres Schicksals und Noltens befestigt, ohne daß sie
genau wußte, wann und wodurch dieser Gedanke eine
unwiderstehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre
Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten
und verehrten Manne, hinter dessen Geist sie sich weit
zurückstellte, den sie durch ihre Hand nur unglücklich
zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch
ihm selbst nicht mehr verborgen bleiben könne, wie
wenig sie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß
Gefühl, das unstreitig aus dem reinsten Grunde un-
eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geschöpf all-
mählig einer frommen und in sich selber trostvollen
Resignation entgegendrängte, so wurde der Entschluß
freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder
durch eine Idee verkümmert, welche sich sehr natürlich
aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur
in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt
seine ursprüngliche Gesinnung verläugnete, wenn er
dem ersten reinen Zuge seines Herzens untreu würde;
und so betrachtete sich nun Agnes schon zum Voraus
auf's Tiefste gekränkt von dem Verlobten, sie war
versucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,

ſerer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine
Rechenſchaft geben und denen wir nicht widerſtehen
können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum
Schlaf ohne Bewußtſeyn und ſind nachher ihn zu be-
zeichnen nicht im Stande: ſo ward in Agnes nach
und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit
ihres Schickſals und Noltens befeſtigt, ohne daß ſie
genau wußte, wann und wodurch dieſer Gedanke eine
unwiderſtehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre
Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten
und verehrten Manne, hinter deſſen Geiſt ſie ſich weit
zurückſtellte, den ſie durch ihre Hand nur unglücklich
zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch
ihm ſelbſt nicht mehr verborgen bleiben könne, wie
wenig ſie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß
Gefühl, das unſtreitig aus dem reinſten Grunde un-
eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geſchöpf all-
mählig einer frommen und in ſich ſelber troſtvollen
Reſignation entgegendrängte, ſo wurde der Entſchluß
freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder
durch eine Idee verkümmert, welche ſich ſehr natürlich
aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur
in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt
ſeine urſprüngliche Geſinnung verläugnete, wenn er
dem erſten reinen Zuge ſeines Herzens untreu würde;
und ſo betrachtete ſich nun Agnes ſchon zum Voraus
auf’s Tiefſte gekränkt von dem Verlobten, ſie war
verſucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0083" n="75"/>
&#x017F;erer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine<lb/>
Rechen&#x017F;chaft geben und denen wir nicht wider&#x017F;tehen<lb/>
können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum<lb/>
Schlaf ohne Bewußt&#x017F;eyn und &#x017F;ind nachher ihn zu be-<lb/>
zeichnen nicht im Stande: &#x017F;o ward in <hi rendition="#g">Agnes</hi> nach<lb/>
und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit<lb/>
ihres Schick&#x017F;als und <hi rendition="#g">Noltens</hi> befe&#x017F;tigt, ohne daß &#x017F;ie<lb/>
genau wußte, wann und wodurch die&#x017F;er Gedanke eine<lb/>
unwider&#x017F;tehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre<lb/>
Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten<lb/>
und verehrten Manne, hinter de&#x017F;&#x017F;en Gei&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;ich weit<lb/>
zurück&#x017F;tellte, den &#x017F;ie durch ihre Hand nur unglücklich<lb/>
zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch<lb/>
ihm &#x017F;elb&#x017F;t nicht mehr verborgen bleiben könne, wie<lb/>
wenig &#x017F;ie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß<lb/>
Gefühl, das un&#x017F;treitig aus dem rein&#x017F;ten Grunde un-<lb/>
eigennütziger Liebe hervorging, das gute Ge&#x017F;chöpf all-<lb/>
mählig einer frommen und in &#x017F;ich &#x017F;elber tro&#x017F;tvollen<lb/>
Re&#x017F;ignation entgegendrängte, &#x017F;o wurde der Ent&#x017F;chluß<lb/>
freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder<lb/>
durch eine Idee verkümmert, welche &#x017F;ich &#x017F;ehr natürlich<lb/>
aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur<lb/>
in dem Falle gedenkbar, wenn <hi rendition="#g">Nolten</hi> überhaupt<lb/>
&#x017F;eine ur&#x017F;prüngliche Ge&#x017F;innung verläugnete, wenn er<lb/>
dem er&#x017F;ten reinen Zuge &#x017F;eines Herzens untreu würde;<lb/>
und &#x017F;o betrachtete &#x017F;ich nun <hi rendition="#g">Agnes</hi> &#x017F;chon zum Voraus<lb/>
auf&#x2019;s Tief&#x017F;te gekränkt von dem Verlobten, &#x017F;ie war<lb/>
ver&#x017F;ucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0083] ſerer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenſchaft geben und denen wir nicht widerſtehen können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtſeyn und ſind nachher ihn zu be- zeichnen nicht im Stande: ſo ward in Agnes nach und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schickſals und Noltens befeſtigt, ohne daß ſie genau wußte, wann und wodurch dieſer Gedanke eine unwiderſtehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter deſſen Geiſt ſie ſich weit zurückſtellte, den ſie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm ſelbſt nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig ſie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß Gefühl, das unſtreitig aus dem reinſten Grunde un- eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geſchöpf all- mählig einer frommen und in ſich ſelber troſtvollen Reſignation entgegendrängte, ſo wurde der Entſchluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche ſich ſehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt ſeine urſprüngliche Geſinnung verläugnete, wenn er dem erſten reinen Zuge ſeines Herzens untreu würde; und ſo betrachtete ſich nun Agnes ſchon zum Voraus auf’s Tiefſte gekränkt von dem Verlobten, ſie war verſucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/83
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/83>, abgerufen am 26.11.2024.