Frühlingsträume der Braut, indeß der Winter diese Scheiben mit Eise beblümt. Wo mögen ihre Gedan- ken jetzo seyn? Auf diesem Teppiche sind seltsame Figuren eingewoben, hundert segelnde Schiffe. Viel- leicht auf diesen Bildern ruhte ihr sinnendes Auge noch kurz, eh' sie die Lampe löschte, nun träumt sie den Geliebten in die wilde See hinaus verschlagen und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O besser, daß er in die Tiefe des Meeres versänke, als daß du ihn treulos fändest, gutes Kind! Aber du lächelst ja auf Einmal so selig, träumst ihn im Arme zu hal- ten, seinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augen- blicke, da du mit seinem Schatten spielest, sucht er wachend ein verbotenes Glück und treibt schändlichen Verrath mit deiner Liebe. Aber immer noch seh' ich dich freundlich; du arglose Seele, ach wohl, es ist auch unerhört und fast unglaublich; was sucht er denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen so nennen, aber hier darf selbst der Himmel wohlgefällig über seine Schöpfung lächeln. Verstand und Geist? O schlüge sich dieß Auge auf! aus seiner dunkelblauen Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höch- sten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage klingt wie Spott auf ihn. Ihr bescheidnen Wände zeuget, wie oft ihr sie habt knieen sehn im brünstigen Gebet, wenn Alles rundum schlief! -- -- Bist ernst geworden, mein Töchterchen; wie seltsam wechselt
Frühlingsträume der Braut, indeß der Winter dieſe Scheiben mit Eiſe beblümt. Wo mögen ihre Gedan- ken jetzo ſeyn? Auf dieſem Teppiche ſind ſeltſame Figuren eingewoben, hundert ſegelnde Schiffe. Viel- leicht auf dieſen Bildern ruhte ihr ſinnendes Auge noch kurz, eh’ ſie die Lampe löſchte, nun träumt ſie den Geliebten in die wilde See hinaus verſchlagen und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O beſſer, daß er in die Tiefe des Meeres verſänke, als daß du ihn treulos fändeſt, gutes Kind! Aber du lächelſt ja auf Einmal ſo ſelig, träumſt ihn im Arme zu hal- ten, ſeinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augen- blicke, da du mit ſeinem Schatten ſpieleſt, ſucht er wachend ein verbotenes Glück und treibt ſchändlichen Verrath mit deiner Liebe. Aber immer noch ſeh’ ich dich freundlich; du argloſe Seele, ach wohl, es iſt auch unerhört und faſt unglaublich; was ſucht er denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen ſo nennen, aber hier darf ſelbſt der Himmel wohlgefällig über ſeine Schöpfung lächeln. Verſtand und Geiſt? O ſchlüge ſich dieß Auge auf! aus ſeiner dunkelblauen Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höch- ſten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage klingt wie Spott auf ihn. Ihr beſcheidnen Wände zeuget, wie oft ihr ſie habt knieen ſehn im brünſtigen Gebet, wenn Alles rundum ſchlief! — — Biſt ernſt geworden, mein Töchterchen; wie ſeltſam wechſelt
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Frühlingsträume der Braut, indeß der Winter dieſe
Scheiben mit Eiſe beblümt. Wo mögen ihre Gedan-
ken jetzo ſeyn? Auf dieſem Teppiche ſind ſeltſame
Figuren eingewoben, hundert ſegelnde Schiffe. Viel-
leicht auf dieſen Bildern ruhte ihr ſinnendes Auge
noch kurz, eh’ ſie die Lampe löſchte, nun träumt ſie
den Geliebten in die wilde See hinaus verſchlagen
und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O beſſer,
daß er in die Tiefe des Meeres verſänke, als daß du
ihn treulos fändeſt, gutes Kind! Aber du lächelſt ja
auf Einmal ſo ſelig, träumſt ihn im Arme zu hal-
ten, ſeinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augen-
blicke, da du mit ſeinem Schatten ſpieleſt, ſucht er
wachend ein verbotenes Glück und treibt ſchändlichen
Verrath mit deiner Liebe. Aber immer noch ſeh’ ich
dich freundlich; du argloſe Seele, ach wohl, es iſt
auch unerhört und faſt unglaublich; was ſucht er
denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und
Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen ſo
nennen, aber hier darf ſelbſt der Himmel wohlgefällig
über ſeine Schöpfung lächeln. Verſtand und Geiſt?
O ſchlüge ſich dieß Auge auf! aus ſeiner dunkelblauen
Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höch-
ſten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage
klingt wie Spott auf ihn. Ihr beſcheidnen Wände
zeuget, wie oft ihr ſie habt knieen ſehn im brünſtigen
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/58>, abgerufen am 24.11.2024.
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