Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein Spiegel sagt es mir, daß der Gram dieser drei Tage mich um doppelt so viel Jahre älter gemacht hat. Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach, möcht' ich ihn wenigstens Einmal wieder von Angesicht sehen! und doch -- ich fürchtete mich davor."
Leopold griff nach dem Hute und erbat sich noch die Anweisung zu dem merkwürdigen Heft; da eben der Schließer eintrat, säumte er nicht länger, um vor Allem den geliebten Patienten zu besuchen. Mit hei- ßen Blicken sah ihm der Schauspieler nach, eine unbe- gränzte Sehnsucht nach Theobald übermannte ihn, aber umsonst, die Thüre zog sich zu und drüben hörte er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauschen.
So stand nun der Bildhauer vor dem Bette Nol- tens, und heimlich entsezt über das äußerst elende Aussehen des Kranken mußte er aller Fassung aufbie- ten, um seine Bewegung nicht zu verrathen. Den Gemüthszustand Noltens konnte er im Ganzen nicht gewahr werden, er sprach wenig und nur angestrengt mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter, wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der Küche so hübsch zu singen pflege? Etwas kleinlaut er- widerte der Alte: "Meine Tochter. Ich will's ihr aber untersagen, es schickt sich nicht; und ach! das Gesinge ist noch ihr einzig Leben." Theobald bat
Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein Spiegel ſagt es mir, daß der Gram dieſer drei Tage mich um doppelt ſo viel Jahre älter gemacht hat. Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach, möcht’ ich ihn wenigſtens Einmal wieder von Angeſicht ſehen! und doch — ich fürchtete mich davor.“
Leopold griff nach dem Hute und erbat ſich noch die Anweiſung zu dem merkwürdigen Heft; da eben der Schließer eintrat, ſäumte er nicht länger, um vor Allem den geliebten Patienten zu beſuchen. Mit hei- ßen Blicken ſah ihm der Schauſpieler nach, eine unbe- gränzte Sehnſucht nach Theobald übermannte ihn, aber umſonſt, die Thüre zog ſich zu und drüben hörte er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauſchen.
So ſtand nun der Bildhauer vor dem Bette Nol- tens, und heimlich entſezt über das äußerſt elende Ausſehen des Kranken mußte er aller Faſſung aufbie- ten, um ſeine Bewegung nicht zu verrathen. Den Gemüthszuſtand Noltens konnte er im Ganzen nicht gewahr werden, er ſprach wenig und nur angeſtrengt mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter, wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der Küche ſo hübſch zu ſingen pflege? Etwas kleinlaut er- widerte der Alte: „Meine Tochter. Ich will’s ihr aber unterſagen, es ſchickt ſich nicht; und ach! das Geſinge iſt noch ihr einzig Leben.“ Theobald bat
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Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein
Spiegel ſagt es mir, daß der Gram dieſer drei Tage
mich um doppelt ſo viel Jahre älter gemacht hat.
Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen
kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und
drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach,
möcht’ ich ihn wenigſtens Einmal wieder von Angeſicht
ſehen! und doch — ich fürchtete mich davor.“
Leopold griff nach dem Hute und erbat ſich noch
die Anweiſung zu dem merkwürdigen Heft; da eben
der Schließer eintrat, ſäumte er nicht länger, um vor
Allem den geliebten Patienten zu beſuchen. Mit hei-
ßen Blicken ſah ihm der Schauſpieler nach, eine unbe-
gränzte Sehnſucht nach Theobald übermannte ihn,
aber umſonſt, die Thüre zog ſich zu und drüben hörte
er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauſchen.
So ſtand nun der Bildhauer vor dem Bette Nol-
tens, und heimlich entſezt über das äußerſt elende
Ausſehen des Kranken mußte er aller Faſſung aufbie-
ten, um ſeine Bewegung nicht zu verrathen. Den
Gemüthszuſtand Noltens konnte er im Ganzen nicht
gewahr werden, er ſprach wenig und nur angeſtrengt
mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter,
wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der
Küche ſo hübſch zu ſingen pflege? Etwas kleinlaut er-
widerte der Alte: „Meine Tochter. Ich will’s ihr
aber unterſagen, es ſchickt ſich nicht; und ach! das
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/283>, abgerufen am 16.02.2025.
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