Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.-- Ferne waren schon die Hütten; Sieh', da flattert's durch den Wind! Eine Gabe zu erbitten Schien ein armes, holdes Kind. Wie vom bösen Geist getrieben, Werf' ich rasch der Bettlerin Ein Geschenk von meiner Lieben, Jene goldne Kette, hin. Plötzlich scheint ein Rad gebunden, Und der Wagen steht gebannt, Und das holde Mädchen unten Hält mich schelmisch bei der Hand. "Denkt man so damit zu schalten? So entdeck' ich den Betrug? Doch, den Wagen festzuhalten, War die Kette stark genug. Willst du, daß ich dir verzeihe, Sey erst selber wieder gut! Oder wo ist deine Treue, Falsches Herze, falsches Blut?" Und sie streichelt mir die Wange,
Küßt mir das erfrorne Kinn, Steht und lächelt, weinet lange Als die schönste Büßerin. — Ferne waren ſchon die Huͤtten; Sieh', da flattert's durch den Wind! Eine Gabe zu erbitten Schien ein armes, holdes Kind. Wie vom boͤſen Geiſt getrieben, Werf' ich raſch der Bettlerin Ein Geſchenk von meiner Lieben, Jene goldne Kette, hin. Ploͤtzlich ſcheint ein Rad gebunden, Und der Wagen ſteht gebannt, Und das holde Maͤdchen unten Haͤlt mich ſchelmiſch bei der Hand. „Denkt man ſo damit zu ſchalten? So entdeck' ich den Betrug? Doch, den Wagen feſtzuhalten, War die Kette ſtark genug. Willſt du, daß ich dir verzeihe, Sey erſt ſelber wieder gut! Oder wo iſt deine Treue, Falſches Herze, falſches Blut?“ Und ſie ſtreichelt mir die Wange,
Kuͤßt mir das erfrorne Kinn, Steht und laͤchelt, weinet lange Als die ſchoͤnſte Buͤßerin. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0023" n="7"/> <lg n="6"> <l>— Ferne waren ſchon die Huͤtten;</l><lb/> <l>Sieh', da flattert's durch den Wind!</l><lb/> <l>Eine Gabe zu erbitten</l><lb/> <l>Schien ein armes, holdes Kind.</l><lb/> </lg> <lg n="7"> <l>Wie vom boͤſen Geiſt getrieben,</l><lb/> <l>Werf' ich raſch der Bettlerin</l><lb/> <l>Ein Geſchenk von meiner Lieben,</l><lb/> <l>Jene goldne Kette, hin.</l><lb/> </lg> <lg n="8"> <l>Ploͤtzlich ſcheint ein Rad gebunden,</l><lb/> <l>Und der Wagen ſteht gebannt,</l><lb/> <l>Und das holde Maͤdchen unten</l><lb/> <l>Haͤlt mich ſchelmiſch bei der Hand.</l><lb/> </lg> <lg n="9"> <l>„Denkt man ſo damit zu ſchalten?</l><lb/> <l>So entdeck' ich den Betrug?</l><lb/> <l>Doch, den Wagen feſtzuhalten,</l><lb/> <l>War die Kette ſtark genug.</l><lb/> </lg> <lg n="10"> <l>Willſt du, daß ich dir verzeihe,</l><lb/> <l>Sey erſt ſelber wieder gut!</l><lb/> <l>Oder wo iſt deine Treue,</l><lb/> <l>Falſches Herze, falſches Blut?“</l><lb/> </lg> <lg n="11"> <l>Und ſie ſtreichelt mir die Wange,</l><lb/> <l>Kuͤßt mir das erfrorne Kinn,</l><lb/> <l>Steht und laͤchelt, weinet lange</l><lb/> <l>Als die ſchoͤnſte Buͤßerin.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [7/0023]
— Ferne waren ſchon die Huͤtten;
Sieh', da flattert's durch den Wind!
Eine Gabe zu erbitten
Schien ein armes, holdes Kind.
Wie vom boͤſen Geiſt getrieben,
Werf' ich raſch der Bettlerin
Ein Geſchenk von meiner Lieben,
Jene goldne Kette, hin.
Ploͤtzlich ſcheint ein Rad gebunden,
Und der Wagen ſteht gebannt,
Und das holde Maͤdchen unten
Haͤlt mich ſchelmiſch bei der Hand.
„Denkt man ſo damit zu ſchalten?
So entdeck' ich den Betrug?
Doch, den Wagen feſtzuhalten,
War die Kette ſtark genug.
Willſt du, daß ich dir verzeihe,
Sey erſt ſelber wieder gut!
Oder wo iſt deine Treue,
Falſches Herze, falſches Blut?“
Und ſie ſtreichelt mir die Wange,
Kuͤßt mir das erfrorne Kinn,
Steht und laͤchelt, weinet lange
Als die ſchoͤnſte Buͤßerin.
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