Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

Bild:
<< vorherige Seite

Das verlohrne Paradies.

Welches Vergnügen haben wir nicht indessen verlohren,
1055Als wir die reizende Frucht uns versagt; wir hatten, bis itzo

Jn dem Geschmacke noch nie die wahre Wollust empfunden.
Steckt in verbothenen Dingen so seltene Reizung verborgen,
O so sollte man wünschen, daß statt des einzigen Baumes
Man uns zehn verbothen. Doch komm, so herrlich erfrischet,
1060Wollen wir scherzen, so wie sichs gebührt nach solchen Gerichten,

Solchem vortrefflichen Mahl. Seit jenem glücklichen Tage,
Da ich am ersten dich sah, und dich mir auf ewig vermählte,
Hat dein zaubrischer Blick, so schön du auch immer mir schienest,
Und so vollkommen du auch mit allem ausgeschmückt worden,
1065Meine Sinnen doch nie zu solchen Begierden entflammet,

Dich zu genießen, als itzt. Du scheinst mir schöner, als jemals [Spaltenumbruch] r);
Eine Wirkung unstreitig von diesem gütigen Baume.

Also sprach er. Und keinen Blick, kein buhlrisch Bezeigen
Unterließ er; es wurde sehr wohl von Even verstanden;
1070Und ihr Auge schoß gleichfalls auf ihn ansteckendes Feuer.

Er ergriff sie erhitzt bey der Hand, und führte sie, willig
Zur verliebten Umarmung, nach einer schattichten Bank hin,
Welche mit| einer laubichten Decke dicht oben verhängt war.
Blumen
r) Unser Dichter hat hier die Unter-
redung zwischen dem Paris und der He-
lena, und die zwischen dem Jupiter und
der Juno auf dem Berge Jda in Gedan-
ken gehabt. Wie Pope anmerkt, hat
Milton diese schlüpfrige Stelle mit großer
Klugheit und Wohlanständigkeit nachge-
[Spaltenumbruch] ahmt. Was im Homer eine gottlose Er-
dichtung scheint, wird zur Sittenlehre
im Milton, weil er diese hitzige Wuth der
Wollust zur unmittelbaren Wirkung der
Sünde unserer ersten Eltern nach dem
Falle macht. N.

Das verlohrne Paradies.

Welches Vergnuͤgen haben wir nicht indeſſen verlohren,
1055Als wir die reizende Frucht uns verſagt; wir hatten, bis itzo

Jn dem Geſchmacke noch nie die wahre Wolluſt empfunden.
Steckt in verbothenen Dingen ſo ſeltene Reizung verborgen,
O ſo ſollte man wuͤnſchen, daß ſtatt des einzigen Baumes
Man uns zehn verbothen. Doch komm, ſo herrlich erfriſchet,
1060Wollen wir ſcherzen, ſo wie ſichs gebuͤhrt nach ſolchen Gerichten,

Solchem vortrefflichen Mahl. Seit jenem gluͤcklichen Tage,
Da ich am erſten dich ſah, und dich mir auf ewig vermaͤhlte,
Hat dein zaubriſcher Blick, ſo ſchoͤn du auch immer mir ſchieneſt,
Und ſo vollkommen du auch mit allem ausgeſchmuͤckt worden,
1065Meine Sinnen doch nie zu ſolchen Begierden entflammet,

Dich zu genießen, als itzt. Du ſcheinſt mir ſchoͤner, als jemals [Spaltenumbruch] r);
Eine Wirkung unſtreitig von dieſem guͤtigen Baume.

Alſo ſprach er. Und keinen Blick, kein buhlriſch Bezeigen
Unterließ er; es wurde ſehr wohl von Even verſtanden;
1070Und ihr Auge ſchoß gleichfalls auf ihn anſteckendes Feuer.

Er ergriff ſie erhitzt bey der Hand, und fuͤhrte ſie, willig
Zur verliebten Umarmung, nach einer ſchattichten Bank hin,
Welche mit| einer laubichten Decke dicht oben verhaͤngt war.
Blumen
r) Unſer Dichter hat hier die Unter-
redung zwiſchen dem Paris und der He-
lena, und die zwiſchen dem Jupiter und
der Juno auf dem Berge Jda in Gedan-
ken gehabt. Wie Pope anmerkt, hat
Milton dieſe ſchluͤpfrige Stelle mit großer
Klugheit und Wohlanſtaͤndigkeit nachge-
[Spaltenumbruch] ahmt. Was im Homer eine gottloſe Er-
dichtung ſcheint, wird zur Sittenlehre
im Milton, weil er dieſe hitzige Wuth der
Wolluſt zur unmittelbaren Wirkung der
Suͤnde unſerer erſten Eltern nach dem
Falle macht. N.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="42">
            <l>
              <pb facs="#f0132" n="112"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das verlohrne Paradies.</hi> </fw>
            </l><lb/>
            <l>Welches Vergnu&#x0364;gen haben wir nicht inde&#x017F;&#x017F;en verlohren,<lb/><note place="left">1055</note>Als wir die reizende Frucht uns ver&#x017F;agt; wir hatten, bis itzo</l><lb/>
            <l>Jn dem Ge&#x017F;chmacke noch nie die wahre Wollu&#x017F;t empfunden.</l><lb/>
            <l>Steckt in verbothenen Dingen &#x017F;o &#x017F;eltene Reizung verborgen,</l><lb/>
            <l>O &#x017F;o &#x017F;ollte man wu&#x0364;n&#x017F;chen, daß &#x017F;tatt des einzigen Baumes</l><lb/>
            <l>Man uns zehn verbothen. Doch komm, &#x017F;o herrlich erfri&#x017F;chet,<lb/><note place="left">1060</note>Wollen wir &#x017F;cherzen, &#x017F;o wie &#x017F;ichs gebu&#x0364;hrt nach &#x017F;olchen Gerichten,</l><lb/>
            <l>Solchem vortrefflichen Mahl. Seit jenem glu&#x0364;cklichen Tage,</l><lb/>
            <l>Da ich am er&#x017F;ten dich &#x017F;ah, und dich mir auf ewig verma&#x0364;hlte,</l><lb/>
            <l>Hat dein zaubri&#x017F;cher Blick, &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n du auch immer mir &#x017F;chiene&#x017F;t,</l><lb/>
            <l>Und &#x017F;o vollkommen du auch mit allem ausge&#x017F;chmu&#x0364;ckt worden,<lb/><note place="left">1065</note>Meine Sinnen doch nie zu &#x017F;olchen Begierden entflammet,</l><lb/>
            <l>Dich zu genießen, als itzt. Du &#x017F;chein&#x017F;t mir &#x017F;cho&#x0364;ner, als jemals <cb/>
<note place="foot" n="r)">Un&#x017F;er Dichter hat hier die Unter-<lb/>
redung zwi&#x017F;chen dem Paris und der He-<lb/>
lena, und die zwi&#x017F;chen dem Jupiter und<lb/>
der Juno auf dem Berge Jda in Gedan-<lb/>
ken gehabt. Wie Pope anmerkt, hat<lb/>
Milton die&#x017F;e &#x017F;chlu&#x0364;pfrige Stelle mit großer<lb/>
Klugheit und Wohlan&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit nachge-<lb/><cb/>
ahmt. Was im Homer eine gottlo&#x017F;e Er-<lb/>
dichtung &#x017F;cheint, wird zur Sittenlehre<lb/>
im Milton, weil er die&#x017F;e hitzige Wuth der<lb/>
Wollu&#x017F;t zur unmittelbaren Wirkung der<lb/>
Su&#x0364;nde un&#x017F;erer er&#x017F;ten Eltern nach dem<lb/>
Falle macht. <hi rendition="#fr">N.</hi></note>;</l><lb/>
            <l>Eine Wirkung un&#x017F;treitig von die&#x017F;em gu&#x0364;tigen Baume.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="43">
            <l>Al&#x017F;o &#x017F;prach er. Und keinen Blick, kein buhlri&#x017F;ch Bezeigen</l><lb/>
            <l>Unterließ er; es wurde &#x017F;ehr wohl von <hi rendition="#fr">Even</hi> ver&#x017F;tanden;<lb/><note place="left">1070</note>Und ihr Auge &#x017F;choß gleichfalls auf ihn an&#x017F;teckendes Feuer.</l><lb/>
            <l>Er ergriff &#x017F;ie erhitzt bey der Hand, und fu&#x0364;hrte &#x017F;ie, willig</l><lb/>
            <l>Zur verliebten Umarmung, nach einer &#x017F;chattichten Bank hin,</l><lb/>
            <l>Welche mit| einer laubichten Decke dicht oben verha&#x0364;ngt war.</l>
          </lg>
        </lg>
      </div><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch">Blumen</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0132] Das verlohrne Paradies. Welches Vergnuͤgen haben wir nicht indeſſen verlohren, Als wir die reizende Frucht uns verſagt; wir hatten, bis itzo Jn dem Geſchmacke noch nie die wahre Wolluſt empfunden. Steckt in verbothenen Dingen ſo ſeltene Reizung verborgen, O ſo ſollte man wuͤnſchen, daß ſtatt des einzigen Baumes Man uns zehn verbothen. Doch komm, ſo herrlich erfriſchet, Wollen wir ſcherzen, ſo wie ſichs gebuͤhrt nach ſolchen Gerichten, Solchem vortrefflichen Mahl. Seit jenem gluͤcklichen Tage, Da ich am erſten dich ſah, und dich mir auf ewig vermaͤhlte, Hat dein zaubriſcher Blick, ſo ſchoͤn du auch immer mir ſchieneſt, Und ſo vollkommen du auch mit allem ausgeſchmuͤckt worden, Meine Sinnen doch nie zu ſolchen Begierden entflammet, Dich zu genießen, als itzt. Du ſcheinſt mir ſchoͤner, als jemals r); Eine Wirkung unſtreitig von dieſem guͤtigen Baume. Alſo ſprach er. Und keinen Blick, kein buhlriſch Bezeigen Unterließ er; es wurde ſehr wohl von Even verſtanden; Und ihr Auge ſchoß gleichfalls auf ihn anſteckendes Feuer. Er ergriff ſie erhitzt bey der Hand, und fuͤhrte ſie, willig Zur verliebten Umarmung, nach einer ſchattichten Bank hin, Welche mit| einer laubichten Decke dicht oben verhaͤngt war. Blumen r) Unſer Dichter hat hier die Unter- redung zwiſchen dem Paris und der He- lena, und die zwiſchen dem Jupiter und der Juno auf dem Berge Jda in Gedan- ken gehabt. Wie Pope anmerkt, hat Milton dieſe ſchluͤpfrige Stelle mit großer Klugheit und Wohlanſtaͤndigkeit nachge- ahmt. Was im Homer eine gottloſe Er- dichtung ſcheint, wird zur Sittenlehre im Milton, weil er dieſe hitzige Wuth der Wolluſt zur unmittelbaren Wirkung der Suͤnde unſerer erſten Eltern nach dem Falle macht. N.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/132
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/132>, abgerufen am 25.11.2024.