Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.
Wundre dich nicht, erhabene Frau, wenn anders noch etwas Dich, das einzige Wunder, zu andrer Verwunderung bringet. 550Waffne noch minder den Himmel der Huld, dein gütiges Auge Mit Verdruß, daß ich mich nah, und so in Entzückung Unersättlich dich schau; dich, so allein; und mit Ehrfurcht Dieses Antlitz nicht fürchte, daß hier in der einsamen Stille Noch l) Der Leser wird, ohne daß man nö-
thig hat, ihn besonders aufmerksam dar- auf zu machen, wahrnehmen, mit wel- cher Kunst der Dichter die Schlange re- den läßt. So falsch auch alle die Be- wegungsgründe sind, womit die Schlange die Mutter der Menschen zu betriegen sucht; so sind sie doch mit einer solchen wahrscheinlichen sophistischen Beredsam- [Spaltenumbruch] keit vorgetragen, daß man geneigter wird, Even, die dadurch irre gemacht wird, zu entschuldigen. Da die heilige Schrift nur mit wenig Worten die Unterredung der Schlange mit Even erzählt, so hat Mil- ton sein schöpferisches Genie hier in dem hellesten Glanze gezeigt, da er so viel scheinbare Benegungsgründe in der Rede der Schlange hinzu erdichtet. Z.
Wundre dich nicht, erhabene Frau, wenn anders noch etwas Dich, das einzige Wunder, zu andrer Verwunderung bringet. 550Waffne noch minder den Himmel der Huld, dein guͤtiges Auge Mit Verdruß, daß ich mich nah, und ſo in Entzuͤckung Unerſaͤttlich dich ſchau; dich, ſo allein; und mit Ehrfurcht Dieſes Antlitz nicht fuͤrchte, daß hier in der einſamen Stille Noch l) Der Leſer wird, ohne daß man noͤ-
thig hat, ihn beſonders aufmerkſam dar- auf zu machen, wahrnehmen, mit wel- cher Kunſt der Dichter die Schlange re- den laͤßt. So falſch auch alle die Be- wegungsgruͤnde ſind, womit die Schlange die Mutter der Menſchen zu betriegen ſucht; ſo ſind ſie doch mit einer ſolchen wahrſcheinlichen ſophiſtiſchen Beredſam- [Spaltenumbruch] keit vorgetragen, daß man geneigter wird, Even, die dadurch irre gemacht wird, zu entſchuldigen. Da die heilige Schrift nur mit wenig Worten die Unterredung der Schlange mit Even erzaͤhlt, ſo hat Mil- ton ſein ſchoͤpferiſches Genie hier in dem helleſten Glanze gezeigt, da er ſo viel ſcheinbare Benegungsgruͤnde in der Rede der Schlange hinzu erdichtet. Z. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <lg n="17"> <l><pb facs="#f0110" n="90"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das verlohrne Paradies.</hi></fw><lb/><note place="left">535</note>Sie, mit der Arbeit beſchaͤfftigt, vernimmt das Rauſchen der Blaͤtter,</l><lb/> <l>Aber achtet es nicht; ſie war der ſcherzenden Spiele</l><lb/> <l>Schon von allen Thieren gewohnt, die mit groͤßerm Gehorſam</l><lb/> <l>Jhrer Stimme gehorchten, als jene verwandelte Hcerde</l><lb/> <l>Dem <hi rendition="#fr">Circeiſchen</hi> Ruf. Er ward nun kuͤhner, und ſtellt ſich<lb/><note place="left">540</note>Ungerufen vor ſie, doch wie vor Verwunderung ſtarrend.</l><lb/> <l>Oftmals neigt er ſein buſchichtes Haupt, und den fleckichten Nacken,</l><lb/> <l>Mit dem zierlichſten Schmelze beſprengt, und leckte den Boden,</l><lb/> <l>Wo ſie geſtanden; ſein ſtummer und ſchmeichelnder Ausdruck zog endlich<lb/><hi rendition="#fr">Evens</hi> Augen auf ſich; mit innrer Verwundrung bemerkt ſie<lb/><note place="left">545</note>Dieſes Spiel; Er, voller Entzuͤcken, daß ſie es bemerket,</l><lb/> <l>Fieng mit organiſcher Schlangenzunge, vielleicht auch mit Toͤnen</l><lb/> <l>Kuͤnſtlich gepreßter Luft, alſo den ſchwarzen Betrug <cb/> <note place="foot" n="l)">Der Leſer wird, ohne daß man noͤ-<lb/> thig hat, ihn beſonders aufmerkſam dar-<lb/> auf zu machen, wahrnehmen, mit wel-<lb/> cher Kunſt der Dichter die Schlange re-<lb/> den laͤßt. So falſch auch alle die Be-<lb/> wegungsgruͤnde ſind, womit die Schlange<lb/> die Mutter der Menſchen zu betriegen<lb/> ſucht; ſo ſind ſie doch mit einer ſolchen<lb/> wahrſcheinlichen ſophiſtiſchen Beredſam-<lb/><cb/> keit vorgetragen, daß man geneigter wird,<lb/> Even, die dadurch irre gemacht wird, zu<lb/> entſchuldigen. Da die heilige Schrift nur<lb/> mit wenig Worten die Unterredung der<lb/> Schlange mit Even erzaͤhlt, ſo hat Mil-<lb/> ton ſein ſchoͤpferiſches Genie hier in dem<lb/> helleſten Glanze gezeigt, da er ſo viel<lb/> ſcheinbare Benegungsgruͤnde in der Rede<lb/> der Schlange hinzu erdichtet. <hi rendition="#fr">Z.</hi></note> an.</l> </lg><lb/> <lg n="18"> <l>Wundre dich nicht, erhabene Frau, wenn anders noch etwas</l><lb/> <l>Dich, das einzige Wunder, zu andrer Verwunderung bringet.<lb/><note place="left">550</note>Waffne noch minder den Himmel der Huld, dein guͤtiges Auge</l><lb/> <l>Mit Verdruß, daß ich mich nah, und ſo in Entzuͤckung</l><lb/> <l>Unerſaͤttlich dich ſchau; dich, ſo allein; und mit Ehrfurcht</l><lb/> <l>Dieſes Antlitz nicht fuͤrchte, daß hier in der einſamen Stille<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Noch</fw><lb/></l> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [90/0110]
Das verlohrne Paradies.
Sie, mit der Arbeit beſchaͤfftigt, vernimmt das Rauſchen der Blaͤtter,
Aber achtet es nicht; ſie war der ſcherzenden Spiele
Schon von allen Thieren gewohnt, die mit groͤßerm Gehorſam
Jhrer Stimme gehorchten, als jene verwandelte Hcerde
Dem Circeiſchen Ruf. Er ward nun kuͤhner, und ſtellt ſich
Ungerufen vor ſie, doch wie vor Verwunderung ſtarrend.
Oftmals neigt er ſein buſchichtes Haupt, und den fleckichten Nacken,
Mit dem zierlichſten Schmelze beſprengt, und leckte den Boden,
Wo ſie geſtanden; ſein ſtummer und ſchmeichelnder Ausdruck zog endlich
Evens Augen auf ſich; mit innrer Verwundrung bemerkt ſie
Dieſes Spiel; Er, voller Entzuͤcken, daß ſie es bemerket,
Fieng mit organiſcher Schlangenzunge, vielleicht auch mit Toͤnen
Kuͤnſtlich gepreßter Luft, alſo den ſchwarzen Betrug
l) an.
Wundre dich nicht, erhabene Frau, wenn anders noch etwas
Dich, das einzige Wunder, zu andrer Verwunderung bringet.
Waffne noch minder den Himmel der Huld, dein guͤtiges Auge
Mit Verdruß, daß ich mich nah, und ſo in Entzuͤckung
Unerſaͤttlich dich ſchau; dich, ſo allein; und mit Ehrfurcht
Dieſes Antlitz nicht fuͤrchte, daß hier in der einſamen Stille
Noch
l) Der Leſer wird, ohne daß man noͤ-
thig hat, ihn beſonders aufmerkſam dar-
auf zu machen, wahrnehmen, mit wel-
cher Kunſt der Dichter die Schlange re-
den laͤßt. So falſch auch alle die Be-
wegungsgruͤnde ſind, womit die Schlange
die Mutter der Menſchen zu betriegen
ſucht; ſo ſind ſie doch mit einer ſolchen
wahrſcheinlichen ſophiſtiſchen Beredſam-
keit vorgetragen, daß man geneigter wird,
Even, die dadurch irre gemacht wird, zu
entſchuldigen. Da die heilige Schrift nur
mit wenig Worten die Unterredung der
Schlange mit Even erzaͤhlt, ſo hat Mil-
ton ſein ſchoͤpferiſches Genie hier in dem
helleſten Glanze gezeigt, da er ſo viel
ſcheinbare Benegungsgruͤnde in der Rede
der Schlange hinzu erdichtet. Z.
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