war bey ihm auf der Zelle; ein paar Bücher sah er noch einmal mit Thränen an, küßte sie, und sagte: Lebt wohl! Jhr habt mir viel Vergnügen gemacht; und nun schrieb er einen Brief an seine Mutter. Jch hab ihn eben vorhin unter seinen schriftlichen Sachen gefunden, und will ihn vorlesen. Er ward ihm, nach seiner Mutter Tod vor 5 Jahren, nebst andern Briefschaften wieder eingehändigt. Der Brief lautet so:
Herzlich geliebte Mutter!
Die Nachricht von dem schlechten Lebenswan- del meines Bruders, und daß er nun Soldat ge- worden ist, hat mich recht schmerzlich betrübt. Jch kann nichts für ihn thun, als für seine Seele be- ten, daß sie noch dem Rachen des Verderbens ent- rissen werde, und sein Ende selig sey! Der selige Vater hat ihn oft gewarnt; aber der Junge wollte nicht folgen, und spottete hinter seinem Rücken. Euer Elend, Jnnigstgeliebte Mutter, geht mir sehr zu Herzen, und hat mir schon viel Thränen ausge- preßt. Hier, nehmt alles hin, was ich habe, und seyd mit dem Bischen Armut zufrieden! Der liebe Gott woll es reichlich vermehren! Jch hab meine überflüßigen Bücher und Jnstrumente verkauft, um
war bey ihm auf der Zelle; ein paar Buͤcher ſah er noch einmal mit Thraͤnen an, kuͤßte ſie, und ſagte: Lebt wohl! Jhr habt mir viel Vergnuͤgen gemacht; und nun ſchrieb er einen Brief an ſeine Mutter. Jch hab ihn eben vorhin unter ſeinen ſchriftlichen Sachen gefunden, und will ihn vorleſen. Er ward ihm, nach ſeiner Mutter Tod vor 5 Jahren, nebſt andern Briefſchaften wieder eingehaͤndigt. Der Brief lautet ſo:
Herzlich geliebte Mutter!
Die Nachricht von dem ſchlechten Lebenswan- del meines Bruders, und daß er nun Soldat ge- worden iſt, hat mich recht ſchmerzlich betruͤbt. Jch kann nichts fuͤr ihn thun, als fuͤr ſeine Seele be- ten, daß ſie noch dem Rachen des Verderbens ent- riſſen werde, und ſein Ende ſelig ſey! Der ſelige Vater hat ihn oft gewarnt; aber der Junge wollte nicht folgen, und ſpottete hinter ſeinem Ruͤcken. Euer Elend, Jnnigſtgeliebte Mutter, geht mir ſehr zu Herzen, und hat mir ſchon viel Thraͤnen ausge- preßt. Hier, nehmt alles hin, was ich habe, und ſeyd mit dem Bischen Armut zufrieden! Der liebe Gott woll es reichlich vermehren! Jch hab meine uͤberfluͤßigen Buͤcher und Jnſtrumente verkauft, um
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war bey ihm auf der Zelle; ein paar Buͤcher ſah er
noch einmal mit Thraͤnen an, kuͤßte ſie, und ſagte:
Lebt wohl! Jhr habt mir viel Vergnuͤgen gemacht;
und nun ſchrieb er einen Brief an ſeine Mutter.
Jch hab ihn eben vorhin unter ſeinen ſchriftlichen
Sachen gefunden, und will ihn vorleſen. Er ward
ihm, nach ſeiner Mutter Tod vor 5 Jahren, nebſt
andern Briefſchaften wieder eingehaͤndigt. Der
Brief lautet ſo:
Herzlich geliebte Mutter!
Die Nachricht von dem ſchlechten Lebenswan-
del meines Bruders, und daß er nun Soldat ge-
worden iſt, hat mich recht ſchmerzlich betruͤbt. Jch
kann nichts fuͤr ihn thun, als fuͤr ſeine Seele be-
ten, daß ſie noch dem Rachen des Verderbens ent-
riſſen werde, und ſein Ende ſelig ſey! Der ſelige
Vater hat ihn oft gewarnt; aber der Junge wollte
nicht folgen, und ſpottete hinter ſeinem Ruͤcken.
Euer Elend, Jnnigſtgeliebte Mutter, geht mir ſehr
zu Herzen, und hat mir ſchon viel Thraͤnen ausge-
preßt. Hier, nehmt alles hin, was ich habe, und
ſeyd mit dem Bischen Armut zufrieden! Der liebe
Gott woll es reichlich vermehren! Jch hab meine
uͤberfluͤßigen Buͤcher und Jnſtrumente verkauft, um
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/96>, abgerufen am 21.11.2024.
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