Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Nun gieng man, nach noch einmal gehaltner
Seelmesse, auseinander, P. Anton auf seine Zel-
le, und Siegwart auf sein Zimmer. Seine ganze
Seele war umwölkt und traurig; aber als er am
Fenster stand, und sah, wie die Sonne mit dem
Nebel rang, und endlich siegte, daß die Berge
und nachher die Felder wieder aufgehellt da la-
gen; da wards auch in seiner Seele wieder
heiter, und sein Herz erhub sich wieder.
Eine freudige Empfindung verdrang die andre,
und seine Phantasie durchirrte tausend Sce-
nen aus der Zukunft. Er dachte sich in alle
mögliche Verhältnisse, in die er einst als Mönch
kommen könnte; alle waren lachend und heiter, wie
das Feld vor ihm im Sonnenstral.

Er las hierauf noch im Leben des heiligen
Franciscus, und erhitzte seine Einbildungskraft
noch mehr, bis zum Essen geläutet wurde. Hier
wurde viel vom Verstorbenen gesprochen. Jeder
wußte eine Geschichte zu erzählen, die zu seinem Vor-
theil gereichte. Am meisten gefiel unserm Sieg-
wart
folgende, die der Guardian erzählte:

Unser seliger Bruder war doch, wie wir alle
wissen, ein großer Freund von der Physik, Ma-
thematik, und besonders von der Astronomie, wor-



Nun gieng man, nach noch einmal gehaltner
Seelmeſſe, auseinander, P. Anton auf ſeine Zel-
le, und Siegwart auf ſein Zimmer. Seine ganze
Seele war umwoͤlkt und traurig; aber als er am
Fenſter ſtand, und ſah, wie die Sonne mit dem
Nebel rang, und endlich ſiegte, daß die Berge
und nachher die Felder wieder aufgehellt da la-
gen; da wards auch in ſeiner Seele wieder
heiter, und ſein Herz erhub ſich wieder.
Eine freudige Empfindung verdrang die andre,
und ſeine Phantaſie durchirrte tauſend Sce-
nen aus der Zukunft. Er dachte ſich in alle
moͤgliche Verhaͤltniſſe, in die er einſt als Moͤnch
kommen koͤnnte; alle waren lachend und heiter, wie
das Feld vor ihm im Sonnenſtral.

Er las hierauf noch im Leben des heiligen
Franciſcus, und erhitzte ſeine Einbildungskraft
noch mehr, bis zum Eſſen gelaͤutet wurde. Hier
wurde viel vom Verſtorbenen geſprochen. Jeder
wußte eine Geſchichte zu erzaͤhlen, die zu ſeinem Vor-
theil gereichte. Am meiſten gefiel unſerm Sieg-
wart
folgende, die der Guardian erzaͤhlte:

Unſer ſeliger Bruder war doch, wie wir alle
wiſſen, ein großer Freund von der Phyſik, Ma-
thematik, und beſonders von der Aſtronomie, wor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0093" n="89"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Nun gieng man, nach noch einmal gehaltner<lb/>
Seelme&#x017F;&#x017F;e, auseinander, P. <hi rendition="#fr">Anton</hi> auf &#x017F;eine Zel-<lb/>
le, und <hi rendition="#fr">Siegwart</hi> auf &#x017F;ein Zimmer. Seine ganze<lb/>
Seele war umwo&#x0364;lkt und traurig; aber als er am<lb/>
Fen&#x017F;ter &#x017F;tand, und &#x017F;ah, wie die Sonne mit dem<lb/>
Nebel rang, und endlich &#x017F;iegte, daß die Berge<lb/>
und nachher die Felder wieder aufgehellt da la-<lb/>
gen; da wards auch in &#x017F;einer Seele wieder<lb/>
heiter, und &#x017F;ein Herz erhub &#x017F;ich wieder.<lb/>
Eine freudige Empfindung verdrang die andre,<lb/>
und &#x017F;eine Phanta&#x017F;ie durchirrte tau&#x017F;end Sce-<lb/>
nen aus der Zukunft. Er dachte &#x017F;ich in alle<lb/>
mo&#x0364;gliche Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, in die er ein&#x017F;t als Mo&#x0364;nch<lb/>
kommen ko&#x0364;nnte; alle waren lachend und heiter, wie<lb/>
das Feld vor ihm im Sonnen&#x017F;tral.</p><lb/>
        <p>Er las hierauf noch im Leben des heiligen<lb/><hi rendition="#fr">Franci&#x017F;cus,</hi> und erhitzte &#x017F;eine Einbildungskraft<lb/>
noch mehr, bis zum E&#x017F;&#x017F;en gela&#x0364;utet wurde. Hier<lb/>
wurde viel vom Ver&#x017F;torbenen ge&#x017F;prochen. Jeder<lb/>
wußte eine Ge&#x017F;chichte zu erza&#x0364;hlen, die zu &#x017F;einem Vor-<lb/>
theil gereichte. Am mei&#x017F;ten gefiel un&#x017F;erm <hi rendition="#fr">Sieg-<lb/>
wart</hi> folgende, die der Guardian erza&#x0364;hlte:</p><lb/>
        <p>Un&#x017F;er &#x017F;eliger Bruder war doch, wie wir alle<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, ein großer Freund von der <hi rendition="#fr">Phy&#x017F;ik,</hi> Ma-<lb/>
thematik, und be&#x017F;onders von der A&#x017F;tronomie, wor-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0093] Nun gieng man, nach noch einmal gehaltner Seelmeſſe, auseinander, P. Anton auf ſeine Zel- le, und Siegwart auf ſein Zimmer. Seine ganze Seele war umwoͤlkt und traurig; aber als er am Fenſter ſtand, und ſah, wie die Sonne mit dem Nebel rang, und endlich ſiegte, daß die Berge und nachher die Felder wieder aufgehellt da la- gen; da wards auch in ſeiner Seele wieder heiter, und ſein Herz erhub ſich wieder. Eine freudige Empfindung verdrang die andre, und ſeine Phantaſie durchirrte tauſend Sce- nen aus der Zukunft. Er dachte ſich in alle moͤgliche Verhaͤltniſſe, in die er einſt als Moͤnch kommen koͤnnte; alle waren lachend und heiter, wie das Feld vor ihm im Sonnenſtral. Er las hierauf noch im Leben des heiligen Franciſcus, und erhitzte ſeine Einbildungskraft noch mehr, bis zum Eſſen gelaͤutet wurde. Hier wurde viel vom Verſtorbenen geſprochen. Jeder wußte eine Geſchichte zu erzaͤhlen, die zu ſeinem Vor- theil gereichte. Am meiſten gefiel unſerm Sieg- wart folgende, die der Guardian erzaͤhlte: Unſer ſeliger Bruder war doch, wie wir alle wiſſen, ein großer Freund von der Phyſik, Ma- thematik, und beſonders von der Aſtronomie, wor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/93
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/93>, abgerufen am 24.11.2024.