Acht! Was geschieht? Ein Ketzer, ein Samariter reist von ungefähr vorbey, sieht den halbrodten Menschen, der nicht seines Glaubens, und, seiner Meynung nach, ein Ketzer ist, liegen; sieht ihn mitleidig an, geht zu ihm hin, verbindet ihm sei- ne Wunden, legt ein Pflaster drauf, und bringt ihn auf seinem Maulesel in ein Wirthshaus, war- tet ihn da selber, und trägt dem Wirth auf, als er weiter reisen muß, er soll für den Kranken sor- gen, und bezalt von seinem eignen Geld dem Wirth auf einige Tage voraus, daß ihm ja nichts abgehen soll. Jst das nicht schön? Und das hat ein Ke- tzer gethan, und den Ketzer lobt Christus, und sagt, daß mans ihm nathmachen soll.
Meynt ihr nicht, Michel, daß unter euren Nachbarn, die ihr so verketzert, auch solche gute Leu- te sind? Jch wenigstens wüste nicht, daß sie euch was zu leid thäten; vielmehr halten sie gute Nach- barschaft, und thun euch alles Guts; würden euch auch wol ein Krümchen Brod und etwas Milch geben, wenn ihr so, wie der arme Mann, weß- wegen ihr eure Frau so geschlagen habt, vor ihre Thür kämet und betteltet. Psuy, das ist nicht fein, so mit Menschen umzugehen!
Acht! Was geſchieht? Ein Ketzer, ein Samariter reiſt von ungefaͤhr vorbey, ſieht den halbrodten Menſchen, der nicht ſeines Glaubens, und, ſeiner Meynung nach, ein Ketzer iſt, liegen; ſieht ihn mitleidig an, geht zu ihm hin, verbindet ihm ſei- ne Wunden, legt ein Pflaſter drauf, und bringt ihn auf ſeinem Mauleſel in ein Wirthshaus, war- tet ihn da ſelber, und traͤgt dem Wirth auf, als er weiter reiſen muß, er ſoll fuͤr den Kranken ſor- gen, und bezalt von ſeinem eignen Geld dem Wirth auf einige Tage voraus, daß ihm ja nichts abgehen ſoll. Jſt das nicht ſchoͤn? Und das hat ein Ke- tzer gethan, und den Ketzer lobt Chriſtus, und ſagt, daß mans ihm nathmachen ſoll.
Meynt ihr nicht, Michel, daß unter euren Nachbarn, die ihr ſo verketzert, auch ſolche gute Leu- te ſind? Jch wenigſtens wuͤſte nicht, daß ſie euch was zu leid thaͤten; vielmehr halten ſie gute Nach- barſchaft, und thun euch alles Guts; wuͤrden euch auch wol ein Kruͤmchen Brod und etwas Milch geben, wenn ihr ſo, wie der arme Mann, weß- wegen ihr eure Frau ſo geſchlagen habt, vor ihre Thuͤr kaͤmet und betteltet. Pſuy, das iſt nicht fein, ſo mit Menſchen umzugehen!
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Acht! Was geſchieht? Ein Ketzer, ein Samariter
reiſt von ungefaͤhr vorbey, ſieht den halbrodten
Menſchen, der nicht ſeines Glaubens, und, ſeiner
Meynung nach, ein Ketzer iſt, liegen; ſieht ihn
mitleidig an, geht zu ihm hin, verbindet ihm ſei-
ne Wunden, legt ein Pflaſter drauf, und bringt
ihn auf ſeinem Mauleſel in ein Wirthshaus, war-
tet ihn da ſelber, und traͤgt dem Wirth auf, als
er weiter reiſen muß, er ſoll fuͤr den Kranken ſor-
gen, und bezalt von ſeinem eignen Geld dem Wirth
auf einige Tage voraus, daß ihm ja nichts abgehen
ſoll. Jſt das nicht ſchoͤn? Und das hat ein Ke-
tzer gethan, und den Ketzer lobt Chriſtus, und ſagt,
daß mans ihm nathmachen ſoll.
Meynt ihr nicht, Michel, daß unter euren
Nachbarn, die ihr ſo verketzert, auch ſolche gute Leu-
te ſind? Jch wenigſtens wuͤſte nicht, daß ſie euch
was zu leid thaͤten; vielmehr halten ſie gute Nach-
barſchaft, und thun euch alles Guts; wuͤrden euch
auch wol ein Kruͤmchen Brod und etwas Milch
geben, wenn ihr ſo, wie der arme Mann, weß-
wegen ihr eure Frau ſo geſchlagen habt, vor ihre
Thuͤr kaͤmet und betteltet. Pſuy, das iſt nicht
fein, ſo mit Menſchen umzugehen!
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/64>, abgerufen am 16.02.2025.
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