Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



werden sieht. Siegwart und Kronhelm bere-
deten sich, bey ihrem Prior anzuhalten, ob sie
nicht auf Ein Zimmer zusammen ziehen dürften?
Der Prior gab es ohne Anstand zu; und Kron-
helm
zog auf Siegwarts Zimmer, das, wegen
seiner herrlichen Aussicht, so vorzüglich war. Die
beyden Freunde fühlten so viele Uebereinstimmung
ihrer Seelen; ihre kleinsten Empfindungen schmol-
zen so ineinander, daß sie beynahe unzertrennlich
wurden; und in jedem Augenblick eine Leere fühl-
ten, den sie nicht miteinander zubringen konnten.
Kronhelm, der in den eigentlichen Wissenschaf-
ten schon weiter war, theilte unvermerkt im Um-
gang alle seine Kentnisse seinem Freunde mit,
und P. Philipp erweiterte sie durch seinen Um-
gang immer mehr. Er liebte sie, wie seine Kin-
der. Beyde malte er ab, und hieng sie über sei-
nem Schreibpult auf. Die beyden Bildnisse sahn
einander an, und lächelten sich mit dem unbe-
schreiblichsten Gefühl der Freundschaft zu. Wers
nicht wuste, sah es, daß die Beyden Freunde wa-
ren. -- Zweymal in der Woche gab der junge
Pater, der Musikdirektor war, ein Koncert, und
unsre beyden Jünglinge nahmen so sehr im Vio-
linspielen zu, daß sie Meister wurden. Sie spiel-



werden ſieht. Siegwart und Kronhelm bere-
deten ſich, bey ihrem Prior anzuhalten, ob ſie
nicht auf Ein Zimmer zuſammen ziehen duͤrften?
Der Prior gab es ohne Anſtand zu; und Kron-
helm
zog auf Siegwarts Zimmer, das, wegen
ſeiner herrlichen Ausſicht, ſo vorzuͤglich war. Die
beyden Freunde fuͤhlten ſo viele Uebereinſtimmung
ihrer Seelen; ihre kleinſten Empfindungen ſchmol-
zen ſo ineinander, daß ſie beynahe unzertrennlich
wurden; und in jedem Augenblick eine Leere fuͤhl-
ten, den ſie nicht miteinander zubringen konnten.
Kronhelm, der in den eigentlichen Wiſſenſchaf-
ten ſchon weiter war, theilte unvermerkt im Um-
gang alle ſeine Kentniſſe ſeinem Freunde mit,
und P. Philipp erweiterte ſie durch ſeinen Um-
gang immer mehr. Er liebte ſie, wie ſeine Kin-
der. Beyde malte er ab, und hieng ſie uͤber ſei-
nem Schreibpult auf. Die beyden Bildniſſe ſahn
einander an, und laͤchelten ſich mit dem unbe-
ſchreiblichſten Gefuͤhl der Freundſchaft zu. Wers
nicht wuſte, ſah es, daß die Beyden Freunde wa-
ren. — Zweymal in der Woche gab der junge
Pater, der Muſikdirektor war, ein Koncert, und
unſre beyden Juͤnglinge nahmen ſo ſehr im Vio-
linſpielen zu, daß ſie Meiſter wurden. Sie ſpiel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0237" n="233"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
werden &#x017F;ieht. <hi rendition="#fr">Siegwart</hi> und <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> bere-<lb/>
deten &#x017F;ich, bey ihrem Prior anzuhalten, ob &#x017F;ie<lb/>
nicht auf Ein Zimmer zu&#x017F;ammen ziehen du&#x0364;rften?<lb/>
Der Prior gab es ohne An&#x017F;tand zu; und <hi rendition="#fr">Kron-<lb/>
helm</hi> zog auf <hi rendition="#fr">Siegwarts</hi> Zimmer, das, wegen<lb/>
&#x017F;einer herrlichen Aus&#x017F;icht, &#x017F;o vorzu&#x0364;glich war. Die<lb/>
beyden Freunde fu&#x0364;hlten &#x017F;o viele Ueberein&#x017F;timmung<lb/>
ihrer Seelen; ihre klein&#x017F;ten Empfindungen &#x017F;chmol-<lb/>
zen &#x017F;o ineinander, daß &#x017F;ie beynahe unzertrennlich<lb/>
wurden; und in jedem Augenblick eine Leere fu&#x0364;hl-<lb/>
ten, den &#x017F;ie nicht miteinander zubringen konnten.<lb/><hi rendition="#fr">Kronhelm,</hi> der in den eigentlichen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaf-<lb/>
ten &#x017F;chon weiter war, theilte unvermerkt im Um-<lb/>
gang alle &#x017F;eine Kentni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einem Freunde mit,<lb/>
und P. <hi rendition="#fr">Philipp</hi> erweiterte &#x017F;ie durch &#x017F;einen Um-<lb/>
gang immer mehr. Er liebte &#x017F;ie, wie &#x017F;eine Kin-<lb/>
der. Beyde malte er ab, und hieng &#x017F;ie u&#x0364;ber &#x017F;ei-<lb/>
nem Schreibpult auf. Die beyden Bildni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ahn<lb/>
einander an, und la&#x0364;chelten &#x017F;ich mit dem unbe-<lb/>
&#x017F;chreiblich&#x017F;ten Gefu&#x0364;hl der Freund&#x017F;chaft zu. Wers<lb/>
nicht wu&#x017F;te, &#x017F;ah es, daß die Beyden Freunde wa-<lb/>
ren. &#x2014; Zweymal in der Woche gab der junge<lb/>
Pater, der Mu&#x017F;ikdirektor war, ein Koncert, und<lb/>
un&#x017F;re beyden Ju&#x0364;nglinge nahmen &#x017F;o &#x017F;ehr im Vio-<lb/>
lin&#x017F;pielen zu, daß &#x017F;ie Mei&#x017F;ter wurden. Sie &#x017F;piel-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0237] werden ſieht. Siegwart und Kronhelm bere- deten ſich, bey ihrem Prior anzuhalten, ob ſie nicht auf Ein Zimmer zuſammen ziehen duͤrften? Der Prior gab es ohne Anſtand zu; und Kron- helm zog auf Siegwarts Zimmer, das, wegen ſeiner herrlichen Ausſicht, ſo vorzuͤglich war. Die beyden Freunde fuͤhlten ſo viele Uebereinſtimmung ihrer Seelen; ihre kleinſten Empfindungen ſchmol- zen ſo ineinander, daß ſie beynahe unzertrennlich wurden; und in jedem Augenblick eine Leere fuͤhl- ten, den ſie nicht miteinander zubringen konnten. Kronhelm, der in den eigentlichen Wiſſenſchaf- ten ſchon weiter war, theilte unvermerkt im Um- gang alle ſeine Kentniſſe ſeinem Freunde mit, und P. Philipp erweiterte ſie durch ſeinen Um- gang immer mehr. Er liebte ſie, wie ſeine Kin- der. Beyde malte er ab, und hieng ſie uͤber ſei- nem Schreibpult auf. Die beyden Bildniſſe ſahn einander an, und laͤchelten ſich mit dem unbe- ſchreiblichſten Gefuͤhl der Freundſchaft zu. Wers nicht wuſte, ſah es, daß die Beyden Freunde wa- ren. — Zweymal in der Woche gab der junge Pater, der Muſikdirektor war, ein Koncert, und unſre beyden Juͤnglinge nahmen ſo ſehr im Vio- linſpielen zu, daß ſie Meiſter wurden. Sie ſpiel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/237
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/237>, abgerufen am 27.11.2024.