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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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weggehen mußte, wenn sie nicht roth werden woll-
te. Kunigunde, so heist die Person, that meiner
Mutter alles mögliche Herzeleid an; stichelte auf
sie; gab ihr grobe Reden; und sagte oft, daß sie
nur aus Gnaden auf dem Schloß sey. Mir
und meinem Bruder, und meinen zwey Schwestern
begegnete sie aufs grausamste, schimpfte auf uns,
schlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe-
stern die leichtsinnigsten Zoten und Lieder. Meine
Mutter, die sonst Stärke der Seele genug hat-
te, konnte das nicht länger ansehen; sie für sich
hätte gern gelitten; aber wir daurten sie zu sehr;
sie hielt also bey meinem Vater an, ob sie mit
uns auf ein entferntes Gut ziehen dürste, das
ihm zugehört? Er willigte mit Freuden ein, denn
das war längst seine und Kunigundens Absicht
gewesen, die ihm deswegen immer in den Ohren
gelegen hatte. -- Wir reißten also mit unsrer
Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf-
sicht die treflichste Erziehung genossen, die ich ihr
noch tausendmal im Grab verdanken muß. Sie
hatte das zarteste Gefühl des Herzens, das bey
jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu-
de ihrer Nebenmenschen Antheil nahm. Sie war
eine Wohlthäterinn der ganzen Gegend; verarm-



weggehen mußte, wenn ſie nicht roth werden woll-
te. Kunigunde, ſo heiſt die Perſon, that meiner
Mutter alles moͤgliche Herzeleid an; ſtichelte auf
ſie; gab ihr grobe Reden; und ſagte oft, daß ſie
nur aus Gnaden auf dem Schloß ſey. Mir
und meinem Bruder, und meinen zwey Schweſtern
begegnete ſie aufs grauſamſte, ſchimpfte auf uns,
ſchlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe-
ſtern die leichtſinnigſten Zoten und Lieder. Meine
Mutter, die ſonſt Staͤrke der Seele genug hat-
te, konnte das nicht laͤnger anſehen; ſie fuͤr ſich
haͤtte gern gelitten; aber wir daurten ſie zu ſehr;
ſie hielt alſo bey meinem Vater an, ob ſie mit
uns auf ein entferntes Gut ziehen duͤrſte, das
ihm zugehoͤrt? Er willigte mit Freuden ein, denn
das war laͤngſt ſeine und Kunigundens Abſicht
geweſen, die ihm deswegen immer in den Ohren
gelegen hatte. — Wir reißten alſo mit unſrer
Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf-
ſicht die treflichſte Erziehung genoſſen, die ich ihr
noch tauſendmal im Grab verdanken muß. Sie
hatte das zarteſte Gefuͤhl des Herzens, das bey
jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu-
de ihrer Nebenmenſchen Antheil nahm. Sie war
eine Wohlthaͤterinn der ganzen Gegend; verarm-

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[221/0225] weggehen mußte, wenn ſie nicht roth werden woll- te. Kunigunde, ſo heiſt die Perſon, that meiner Mutter alles moͤgliche Herzeleid an; ſtichelte auf ſie; gab ihr grobe Reden; und ſagte oft, daß ſie nur aus Gnaden auf dem Schloß ſey. Mir und meinem Bruder, und meinen zwey Schweſtern begegnete ſie aufs grauſamſte, ſchimpfte auf uns, ſchlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe- ſtern die leichtſinnigſten Zoten und Lieder. Meine Mutter, die ſonſt Staͤrke der Seele genug hat- te, konnte das nicht laͤnger anſehen; ſie fuͤr ſich haͤtte gern gelitten; aber wir daurten ſie zu ſehr; ſie hielt alſo bey meinem Vater an, ob ſie mit uns auf ein entferntes Gut ziehen duͤrſte, das ihm zugehoͤrt? Er willigte mit Freuden ein, denn das war laͤngſt ſeine und Kunigundens Abſicht geweſen, die ihm deswegen immer in den Ohren gelegen hatte. — Wir reißten alſo mit unſrer Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf- ſicht die treflichſte Erziehung genoſſen, die ich ihr noch tauſendmal im Grab verdanken muß. Sie hatte das zarteſte Gefuͤhl des Herzens, das bey jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu- de ihrer Nebenmenſchen Antheil nahm. Sie war eine Wohlthaͤterinn der ganzen Gegend; verarm-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/225>, abgerufen am 02.05.2024.