sprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih- ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel- che sie verlassen hatten, ob sie wol noch lebten, oder sie im Himmel schon erwarteten?
Sie theilten sich ihre Besorgnisse wegen an- drer mit, von denen sie wusten, daß sie ehedem der Welt und ihren Leidenschaften zu sehr nachge- hangen, und nicht rechtschaffen gedacht und gehan- delt hätten; und nun beteten sie gemeinschaftlich mit Worten, oder auch mit Blicken für ihr Wohl und ihre Besserung.
Jn andern Gängen schlichen weniger edelge- sinnte Männer, die der Neid gegen andre, oder das Misvergnügen über ihre Vorgesetzten vereinigt hatte, und die sich mit den Fehlern oder Schwach- heiten ihrer Mitbrüder beschäftigten, und boshafte Kränkungen für sie aussannen -- Weg von diesen Unedeln, deren es leider in dem Kloster, das ein Sitz der Unschuld seyn sollte, nur zu viele gibt!
Aber last uns die bedauren, die einsam, ohne Gefährten in den dunkelsten und engsten Gän- gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer Brüder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die, aus Ueberdruß der Welt, in der nur Unglück sie verfolgte, sich in einer Stunde des Unwillens und
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ſprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih- ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel- che ſie verlaſſen hatten, ob ſie wol noch lebten, oder ſie im Himmel ſchon erwarteten?
Sie theilten ſich ihre Beſorgniſſe wegen an- drer mit, von denen ſie wuſten, daß ſie ehedem der Welt und ihren Leidenſchaften zu ſehr nachge- hangen, und nicht rechtſchaffen gedacht und gehan- delt haͤtten; und nun beteten ſie gemeinſchaftlich mit Worten, oder auch mit Blicken fuͤr ihr Wohl und ihre Beſſerung.
Jn andern Gaͤngen ſchlichen weniger edelge- ſinnte Maͤnner, die der Neid gegen andre, oder das Misvergnuͤgen uͤber ihre Vorgeſetzten vereinigt hatte, und die ſich mit den Fehlern oder Schwach- heiten ihrer Mitbruͤder beſchaͤftigten, und boshafte Kraͤnkungen fuͤr ſie ausſannen — Weg von dieſen Unedeln, deren es leider in dem Kloſter, das ein Sitz der Unſchuld ſeyn ſollte, nur zu viele gibt!
Aber laſt uns die bedauren, die einſam, ohne Gefaͤhrten in den dunkelſten und engſten Gaͤn- gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer Bruͤder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die, aus Ueberdruß der Welt, in der nur Ungluͤck ſie verfolgte, ſich in einer Stunde des Unwillens und
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[17/0021]
ſprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih-
ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel-
che ſie verlaſſen hatten, ob ſie wol noch lebten, oder
ſie im Himmel ſchon erwarteten?
Sie theilten ſich ihre Beſorgniſſe wegen an-
drer mit, von denen ſie wuſten, daß ſie ehedem
der Welt und ihren Leidenſchaften zu ſehr nachge-
hangen, und nicht rechtſchaffen gedacht und gehan-
delt haͤtten; und nun beteten ſie gemeinſchaftlich
mit Worten, oder auch mit Blicken fuͤr ihr Wohl
und ihre Beſſerung.
Jn andern Gaͤngen ſchlichen weniger edelge-
ſinnte Maͤnner, die der Neid gegen andre, oder
das Misvergnuͤgen uͤber ihre Vorgeſetzten vereinigt
hatte, und die ſich mit den Fehlern oder Schwach-
heiten ihrer Mitbruͤder beſchaͤftigten, und boshafte
Kraͤnkungen fuͤr ſie ausſannen — Weg von dieſen
Unedeln, deren es leider in dem Kloſter, das ein
Sitz der Unſchuld ſeyn ſollte, nur zu viele gibt!
Aber laſt uns die bedauren, die einſam, ohne
Gefaͤhrten in den dunkelſten und engſten Gaͤn-
gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer
Bruͤder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die,
aus Ueberdruß der Welt, in der nur Ungluͤck ſie
verfolgte, ſich in einer Stunde des Unwillens und
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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