Ließ diesen Brief allein, und laß ihn niemand sehen! Du wirst mir glauben, daß dein Wohlbefinden mich im innersten erfreut. Auch ist mirs lieb, daß du gute Freunde gefunden hast. Nach dem, was du mir vom Herrn Kreutzner schreibst, muß er sreylich wohl ein guter Mensch seyn; aber ver- zeyh mir, Bruder, wann ich sage: sein Brief ge- fällt mir gar nicht. Er sagt mir so viel vor, daß ich schön und artig sey; und da möchte ich wol fragen, wo ers her weiß? Du hast ihm so was gewiß nicht gesagt. Also kanns ihm wol nicht Ernst seyn, was er schreibt, oder er spottet gar über mich. Das ist aber nicht artig, ein einfältiges Landmädchen, das man gar nicht kennt, zu vexiren, und ihr Grillen in den Kopf zu se- tzen. Mich soll er aber durch seine Schmeicheleyen nicht blenden. Jch weiß wohl, worauf ich mir was gut zu thun habe, und das kennt er nicht. Verzeyh mir, Bruder, daß ich härter schreibe, als du's wünschen möchtest; aber du weist, daß ich nie kein Blatt vor's Maul genommen habe. Was du mir vom P. Philipp und dem jungen Herrn von Kronhelm berichtest, hat mir weit besser gefallen. Der junge Mensch muß eine gu-
Liebſter Bruder!
Ließ dieſen Brief allein, und laß ihn niemand ſehen! Du wirſt mir glauben, daß dein Wohlbefinden mich im innerſten erfreut. Auch iſt mirs lieb, daß du gute Freunde gefunden haſt. Nach dem, was du mir vom Herrn Kreutzner ſchreibſt, muß er ſreylich wohl ein guter Menſch ſeyn; aber ver- zeyh mir, Bruder, wann ich ſage: ſein Brief ge- faͤllt mir gar nicht. Er ſagt mir ſo viel vor, daß ich ſchoͤn und artig ſey; und da moͤchte ich wol fragen, wo ers her weiß? Du haſt ihm ſo was gewiß nicht geſagt. Alſo kanns ihm wol nicht Ernſt ſeyn, was er ſchreibt, oder er ſpottet gar uͤber mich. Das iſt aber nicht artig, ein einfaͤltiges Landmaͤdchen, das man gar nicht kennt, zu vexiren, und ihr Grillen in den Kopf zu ſe- tzen. Mich ſoll er aber durch ſeine Schmeicheleyen nicht blenden. Jch weiß wohl, worauf ich mir was gut zu thun habe, und das kennt er nicht. Verzeyh mir, Bruder, daß ich haͤrter ſchreibe, als du’s wuͤnſchen moͤchteſt; aber du weiſt, daß ich nie kein Blatt vor’s Maul genommen habe. Was du mir vom P. Philipp und dem jungen Herrn von Kronhelm berichteſt, hat mir weit beſſer gefallen. Der junge Menſch muß eine gu-
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Liebſter Bruder!
Ließ dieſen Brief allein, und laß ihn niemand
ſehen! Du wirſt mir glauben, daß dein Wohlbefinden
mich im innerſten erfreut. Auch iſt mirs lieb, daß
du gute Freunde gefunden haſt. Nach dem, was
du mir vom Herrn Kreutzner ſchreibſt, muß er
ſreylich wohl ein guter Menſch ſeyn; aber ver-
zeyh mir, Bruder, wann ich ſage: ſein Brief ge-
faͤllt mir gar nicht. Er ſagt mir ſo viel vor,
daß ich ſchoͤn und artig ſey; und da moͤchte ich
wol fragen, wo ers her weiß? Du haſt ihm ſo
was gewiß nicht geſagt. Alſo kanns ihm wol
nicht Ernſt ſeyn, was er ſchreibt, oder er ſpottet
gar uͤber mich. Das iſt aber nicht artig, ein
einfaͤltiges Landmaͤdchen, das man gar nicht kennt,
zu vexiren, und ihr Grillen in den Kopf zu ſe-
tzen. Mich ſoll er aber durch ſeine Schmeicheleyen
nicht blenden. Jch weiß wohl, worauf ich mir
was gut zu thun habe, und das kennt er nicht.
Verzeyh mir, Bruder, daß ich haͤrter ſchreibe, als
du’s wuͤnſchen moͤchteſt; aber du weiſt, daß ich
nie kein Blatt vor’s Maul genommen habe.
Was du mir vom P. Philipp und dem jungen
Herrn von Kronhelm berichteſt, hat mir weit
beſſer gefallen. Der junge Menſch muß eine gu-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/193>, abgerufen am 21.11.2024.
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