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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Wends gut an! -- Es war ein Beutel mit unge-
fähr zwölf Conventionsthalern, und ein paar Du-
katen -- Jch will für dich sorgen, so lange ich kann.
Aber verlaß dich nicht zu sehr darauf! Wir Men-
schen sind sterblich, und wer weiß, wie lange ich noch
lebe? -- Hier brach Xavern ganz das Herz --
Ja, mein Sohn, man muß ich auf alles gefaßt
machen. Lerne du was rechts, damit du nicht zu
sehr von Menschen und ihrer Gnad abhängen
darfst! Gott segne dich, mein Sohn, und erhöre
meine heissen Wünsche! -- Hier konnt er sich nicht
länger halten; er fiel seinem Sohn um den Hals,
drückte ihn fest an sich, küßte ihn mit der größten
Heftigkeit, und weinte. Seine heissen Thränen
rollten über Xavers Wangen mit den seinigen.
Dies war das zweytemal in seinem Leben, daß ihn
Xaver weinen sah; das erstemal weinte er, als
seine Frau starb. Xaver sah vor lauter Thränen
nichts; er schluchzte laut, und sein Herz wollte
fast zerspringen. Der Vater ermannte sich wie-
der, und machte dem traurigen Auftritt selbst ein
Ende, indem er seinen Sohn ins Wohnzimmer
führte, wo Therese und Karl waren. Wilhelm
war nicht aus dem Schlaf zu bringen.



Wends gut an! — Es war ein Beutel mit unge-
faͤhr zwoͤlf Conventionsthalern, und ein paar Du-
katen — Jch will fuͤr dich ſorgen, ſo lange ich kann.
Aber verlaß dich nicht zu ſehr darauf! Wir Men-
ſchen ſind ſterblich, und wer weiß, wie lange ich noch
lebe? — Hier brach Xavern ganz das Herz —
Ja, mein Sohn, man muß ich auf alles gefaßt
machen. Lerne du was rechts, damit du nicht zu
ſehr von Menſchen und ihrer Gnad abhaͤngen
darfſt! Gott ſegne dich, mein Sohn, und erhoͤre
meine heiſſen Wuͤnſche! — Hier konnt er ſich nicht
laͤnger halten; er fiel ſeinem Sohn um den Hals,
druͤckte ihn feſt an ſich, kuͤßte ihn mit der groͤßten
Heftigkeit, und weinte. Seine heiſſen Thraͤnen
rollten uͤber Xavers Wangen mit den ſeinigen.
Dies war das zweytemal in ſeinem Leben, daß ihn
Xaver weinen ſah; das erſtemal weinte er, als
ſeine Frau ſtarb. Xaver ſah vor lauter Thraͤnen
nichts; er ſchluchzte laut, und ſein Herz wollte
faſt zerſpringen. Der Vater ermannte ſich wie-
der, und machte dem traurigen Auftritt ſelbſt ein
Ende, indem er ſeinen Sohn ins Wohnzimmer
fuͤhrte, wo Thereſe und Karl waren. Wilhelm
war nicht aus dem Schlaf zu bringen.

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[164/0168] Wends gut an! — Es war ein Beutel mit unge- faͤhr zwoͤlf Conventionsthalern, und ein paar Du- katen — Jch will fuͤr dich ſorgen, ſo lange ich kann. Aber verlaß dich nicht zu ſehr darauf! Wir Men- ſchen ſind ſterblich, und wer weiß, wie lange ich noch lebe? — Hier brach Xavern ganz das Herz — Ja, mein Sohn, man muß ich auf alles gefaßt machen. Lerne du was rechts, damit du nicht zu ſehr von Menſchen und ihrer Gnad abhaͤngen darfſt! Gott ſegne dich, mein Sohn, und erhoͤre meine heiſſen Wuͤnſche! — Hier konnt er ſich nicht laͤnger halten; er fiel ſeinem Sohn um den Hals, druͤckte ihn feſt an ſich, kuͤßte ihn mit der groͤßten Heftigkeit, und weinte. Seine heiſſen Thraͤnen rollten uͤber Xavers Wangen mit den ſeinigen. Dies war das zweytemal in ſeinem Leben, daß ihn Xaver weinen ſah; das erſtemal weinte er, als ſeine Frau ſtarb. Xaver ſah vor lauter Thraͤnen nichts; er ſchluchzte laut, und ſein Herz wollte faſt zerſpringen. Der Vater ermannte ſich wie- der, und machte dem traurigen Auftritt ſelbſt ein Ende, indem er ſeinen Sohn ins Wohnzimmer fuͤhrte, wo Thereſe und Karl waren. Wilhelm war nicht aus dem Schlaf zu bringen.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/168>, abgerufen am 05.05.2024.