Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



lichen guten Abend wünschte, ohne weiter nachzu-
fragen, wie es ihm die Zeit über gegangen sey?

Bald drauf setzte man sich in der Laube zu
Tische; Therese trug mit angenehmer Geschästigkeit
das Essen auf. Sie war wie eine arkadische
Schäferinn gekleidet, im weissen Gewand der Un-
schuld mit rosenroten Schleifen. Jhre schönen
braunen Haare waren losgegangen, und flogen in
der Luft, wenn sie durch den Garten hüpfte. Sie
muste sich neben ihren Vater setzen, und ihm aller-
ley erzälen. Mit ihrer gewöhnlichen Anmut that
sie's zwar aber nicht mit der, ihr sonst eigenthüm-
lichen Munterkeit; denn das künftige Schicksal ih-
res Bruders schwebte ihr, wie eine Wetterwolke
am sonst heitern Himmel, vor Augen, und er-
schreckte sie. Er saß ihr gegenüber; wenn er sie
nicht ansah, blickte sie ihn halbverstohlen und mit-
leidig an; Ein paarmal hatte sie Mühe, Jhre
Thränen vor ihm und ihrem Vater zu verbergen.
Karl hingegen, der in Gedanken schon berechnet
hatte, wie viel er durch den Entschluß seines Bru-
ders, ins Kloster zu gehen, bey der Erbschaft einst
gewinnen werde, sprach unaufhörlich von der ver-
nünftigen Wahl Xavers, und von dem Glück das
ihn erwartete, gleich als ob er fürchtete, sein Ent-



lichen guten Abend wuͤnſchte, ohne weiter nachzu-
fragen, wie es ihm die Zeit uͤber gegangen ſey?

Bald drauf ſetzte man ſich in der Laube zu
Tiſche; Thereſe trug mit angenehmer Geſchaͤſtigkeit
das Eſſen auf. Sie war wie eine arkadiſche
Schaͤferinn gekleidet, im weiſſen Gewand der Un-
ſchuld mit roſenroten Schleifen. Jhre ſchoͤnen
braunen Haare waren losgegangen, und flogen in
der Luft, wenn ſie durch den Garten huͤpfte. Sie
muſte ſich neben ihren Vater ſetzen, und ihm aller-
ley erzaͤlen. Mit ihrer gewoͤhnlichen Anmut that
ſie’s zwar aber nicht mit der, ihr ſonſt eigenthuͤm-
lichen Munterkeit; denn das kuͤnftige Schickſal ih-
res Bruders ſchwebte ihr, wie eine Wetterwolke
am ſonſt heitern Himmel, vor Augen, und er-
ſchreckte ſie. Er ſaß ihr gegenuͤber; wenn er ſie
nicht anſah, blickte ſie ihn halbverſtohlen und mit-
leidig an; Ein paarmal hatte ſie Muͤhe, Jhre
Thraͤnen vor ihm und ihrem Vater zu verbergen.
Karl hingegen, der in Gedanken ſchon berechnet
hatte, wie viel er durch den Entſchluß ſeines Bru-
ders, ins Kloſter zu gehen, bey der Erbſchaft einſt
gewinnen werde, ſprach unaufhoͤrlich von der ver-
nuͤnftigen Wahl Xavers, und von dem Gluͤck das
ihn erwartete, gleich als ob er fuͤrchtete, ſein Ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0126" n="122"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
lichen guten Abend wu&#x0364;n&#x017F;chte, ohne weiter nachzu-<lb/>
fragen, wie es ihm die Zeit u&#x0364;ber gegangen &#x017F;ey?</p><lb/>
        <p>Bald drauf &#x017F;etzte man &#x017F;ich in der Laube zu<lb/>
Ti&#x017F;che; <hi rendition="#fr">There&#x017F;e</hi> trug mit angenehmer Ge&#x017F;cha&#x0364;&#x017F;tigkeit<lb/>
das E&#x017F;&#x017F;en auf. Sie war wie eine arkadi&#x017F;che<lb/>
Scha&#x0364;ferinn gekleidet, im wei&#x017F;&#x017F;en Gewand der Un-<lb/>
&#x017F;chuld mit ro&#x017F;enroten Schleifen. Jhre &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
braunen Haare waren losgegangen, und flogen in<lb/>
der Luft, wenn &#x017F;ie durch den Garten hu&#x0364;pfte. Sie<lb/>
mu&#x017F;te &#x017F;ich neben ihren Vater &#x017F;etzen, und ihm aller-<lb/>
ley erza&#x0364;len. Mit ihrer gewo&#x0364;hnlichen Anmut that<lb/>
&#x017F;ie&#x2019;s zwar aber nicht mit der, ihr &#x017F;on&#x017F;t eigenthu&#x0364;m-<lb/>
lichen Munterkeit; denn das ku&#x0364;nftige Schick&#x017F;al ih-<lb/>
res Bruders &#x017F;chwebte ihr, wie eine Wetterwolke<lb/>
am &#x017F;on&#x017F;t heitern Himmel, vor Augen, und er-<lb/>
&#x017F;chreckte &#x017F;ie. Er &#x017F;aß ihr gegenu&#x0364;ber; wenn er &#x017F;ie<lb/>
nicht an&#x017F;ah, blickte &#x017F;ie ihn halbver&#x017F;tohlen und mit-<lb/>
leidig an; Ein paarmal hatte &#x017F;ie Mu&#x0364;he, Jhre<lb/>
Thra&#x0364;nen vor ihm und ihrem Vater zu verbergen.<lb/>
Karl hingegen, der in Gedanken &#x017F;chon berechnet<lb/>
hatte, wie viel er durch den Ent&#x017F;chluß &#x017F;eines Bru-<lb/>
ders, ins Klo&#x017F;ter zu gehen, bey der Erb&#x017F;chaft ein&#x017F;t<lb/>
gewinnen werde, &#x017F;prach unaufho&#x0364;rlich von der ver-<lb/>
nu&#x0364;nftigen Wahl <hi rendition="#fr">Xavers,</hi> und von dem Glu&#x0364;ck das<lb/>
ihn erwartete, gleich als ob er fu&#x0364;rchtete, &#x017F;ein Ent-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0126] lichen guten Abend wuͤnſchte, ohne weiter nachzu- fragen, wie es ihm die Zeit uͤber gegangen ſey? Bald drauf ſetzte man ſich in der Laube zu Tiſche; Thereſe trug mit angenehmer Geſchaͤſtigkeit das Eſſen auf. Sie war wie eine arkadiſche Schaͤferinn gekleidet, im weiſſen Gewand der Un- ſchuld mit roſenroten Schleifen. Jhre ſchoͤnen braunen Haare waren losgegangen, und flogen in der Luft, wenn ſie durch den Garten huͤpfte. Sie muſte ſich neben ihren Vater ſetzen, und ihm aller- ley erzaͤlen. Mit ihrer gewoͤhnlichen Anmut that ſie’s zwar aber nicht mit der, ihr ſonſt eigenthuͤm- lichen Munterkeit; denn das kuͤnftige Schickſal ih- res Bruders ſchwebte ihr, wie eine Wetterwolke am ſonſt heitern Himmel, vor Augen, und er- ſchreckte ſie. Er ſaß ihr gegenuͤber; wenn er ſie nicht anſah, blickte ſie ihn halbverſtohlen und mit- leidig an; Ein paarmal hatte ſie Muͤhe, Jhre Thraͤnen vor ihm und ihrem Vater zu verbergen. Karl hingegen, der in Gedanken ſchon berechnet hatte, wie viel er durch den Entſchluß ſeines Bru- ders, ins Kloſter zu gehen, bey der Erbſchaft einſt gewinnen werde, ſprach unaufhoͤrlich von der ver- nuͤnftigen Wahl Xavers, und von dem Gluͤck das ihn erwartete, gleich als ob er fuͤrchtete, ſein Ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/126
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/126>, abgerufen am 24.11.2024.