IV. Gefahren und Rettungsmittel -- Wanderstäbe -- Knieholz.
Auf einem schmalen, zu beiden Seiten steil abfallenden Grat erheischt die Anwesenheit von Schnee die äußerste Be- dächtigkeit: Schritt für Schritt muß der Grund mit dem Stabe untersucht und möglichst von Schnee blosgelegt werden. Ist auf einer Seite der Abgrund, auf der andern ein schroff emporstrebender Berg und der Raum beengt, so ist es ge- boten, den Rock zuzuknöpfen, den Plaid und was man sonst trägt so zu legen, daß nichts anstoßen, anhaken, hangen bleiben kann, kurz alles das Gleichgewicht und die freie Bewegung Störende zu beseitigen, ferner auf den Stab und seine Zwinge oben zu achten; ist sie darauf eingerichtet, so wird sie abgeschraubt; auch die Schuhbänder werden vorher fest- gezogen, wenn sie gelockert wären. Der Stab wird mit beiden Händen gefaßt, aber wieder vorn aufgesetzt; ihn tiefer als die Füße zu stellen, so daß ein Theil des Körpers ihn über- ragt, ist nutzlos und gefährlich. Im Gebrauch des Alpen- stocks, der überhaupt eine längere Uebung fordert, hat der einen wesentlichen Vortheil, der von Haus aus die Bildung des linken Arms und der linken Hand nicht vernachlässigte. Manche Reisende handhaben diese für Eingeweihte so wichtige Stütze mit solchem Ungeschick, daß sie besser thäten, sie ganz wegzulassen und ihren gewohnten Wanderstab beizubehalten. Geschieht dies, so sei derselbe von kräftiger Art und habe oben einen bequemen Griff, welcher letztere aber vorschrifts- mäßig nicht angesteckt, geleimt, geschraubt, sondern an- gewachsen sein muß.
Eine große Hilfe beim Aufwärtsklimmen in Regionen, in denen noch nicht alles Pflanzenleben erstorben, gewährt das Knieholz (Legföhren, Sprutföhren, Latschen), dessen Stämmchen -- ächte schweizer Naturen, ihrem Heimatsboden, sei er auch noch so hart und karg, mit unverbrüchlicher Treue anhänglich -- oft scheinbar ohne Spur von Erde mit ihren Wurzeln an und in dem Felsen sich so fest klammern, daß sie eine treffliche Handhabe bieten und in der Regel die Last eines ausgewachsenen Mannes zu tragen vermögen.
IV. Gefahren und Rettungsmittel — Wanderſtäbe — Knieholz.
Auf einem ſchmalen, zu beiden Seiten ſteil abfallenden Grat erheiſcht die Anweſenheit von Schnee die äußerſte Be- dächtigkeit: Schritt für Schritt muß der Grund mit dem Stabe unterſucht und möglichſt von Schnee blosgelegt werden. Iſt auf einer Seite der Abgrund, auf der andern ein ſchroff emporſtrebender Berg und der Raum beengt, ſo iſt es ge- boten, den Rock zuzuknöpfen, den Plaid und was man ſonſt trägt ſo zu legen, daß nichts anſtoßen, anhaken, hangen bleiben kann, kurz alles das Gleichgewicht und die freie Bewegung Störende zu beſeitigen, ferner auf den Stab und ſeine Zwinge oben zu achten; iſt ſie darauf eingerichtet, ſo wird ſie abgeſchraubt; auch die Schuhbänder werden vorher feſt- gezogen, wenn ſie gelockert wären. Der Stab wird mit beiden Händen gefaßt, aber wieder vorn aufgeſetzt; ihn tiefer als die Füße zu ſtellen, ſo daß ein Theil des Körpers ihn über- ragt, iſt nutzlos und gefährlich. Im Gebrauch des Alpen- ſtocks, der überhaupt eine längere Uebung fordert, hat der einen weſentlichen Vortheil, der von Haus aus die Bildung des linken Arms und der linken Hand nicht vernachläſſigte. Manche Reiſende handhaben dieſe für Eingeweihte ſo wichtige Stütze mit ſolchem Ungeſchick, daß ſie beſſer thäten, ſie ganz wegzulaſſen und ihren gewohnten Wanderſtab beizubehalten. Geſchieht dies, ſo ſei derſelbe von kräftiger Art und habe oben einen bequemen Griff, welcher letztere aber vorſchrifts- mäßig nicht angeſteckt, geleimt, geſchraubt, ſondern an- gewachſen ſein muß.
Eine große Hilfe beim Aufwärtsklimmen in Regionen, in denen noch nicht alles Pflanzenleben erſtorben, gewährt das Knieholz (Legföhren, Sprutföhren, Latſchen), deſſen Stämmchen — ächte ſchweizer Naturen, ihrem Heimatsboden, ſei er auch noch ſo hart und karg, mit unverbrüchlicher Treue anhänglich — oft ſcheinbar ohne Spur von Erde mit ihren Wurzeln an und in dem Felſen ſich ſo feſt klammern, daß ſie eine treffliche Handhabe bieten und in der Regel die Laſt eines ausgewachſenen Mannes zu tragen vermögen.
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IV. Gefahren und Rettungsmittel — Wanderſtäbe — Knieholz.
Auf einem ſchmalen, zu beiden Seiten ſteil abfallenden
Grat erheiſcht die Anweſenheit von Schnee die äußerſte Be-
dächtigkeit: Schritt für Schritt muß der Grund mit dem
Stabe unterſucht und möglichſt von Schnee blosgelegt werden.
Iſt auf einer Seite der Abgrund, auf der andern ein ſchroff
emporſtrebender Berg und der Raum beengt, ſo iſt es ge-
boten, den Rock zuzuknöpfen, den Plaid und was man ſonſt
trägt ſo zu legen, daß nichts anſtoßen, anhaken, hangen bleiben
kann, kurz alles das Gleichgewicht und die freie Bewegung
Störende zu beſeitigen, ferner auf den Stab und ſeine
Zwinge oben zu achten; iſt ſie darauf eingerichtet, ſo wird
ſie abgeſchraubt; auch die Schuhbänder werden vorher feſt-
gezogen, wenn ſie gelockert wären. Der Stab wird mit beiden
Händen gefaßt, aber wieder vorn aufgeſetzt; ihn tiefer als
die Füße zu ſtellen, ſo daß ein Theil des Körpers ihn über-
ragt, iſt nutzlos und gefährlich. Im Gebrauch des Alpen-
ſtocks, der überhaupt eine längere Uebung fordert, hat der
einen weſentlichen Vortheil, der von Haus aus die Bildung
des linken Arms und der linken Hand nicht vernachläſſigte.
Manche Reiſende handhaben dieſe für Eingeweihte ſo wichtige
Stütze mit ſolchem Ungeſchick, daß ſie beſſer thäten, ſie ganz
wegzulaſſen und ihren gewohnten Wanderſtab beizubehalten.
Geſchieht dies, ſo ſei derſelbe von kräftiger Art und habe
oben einen bequemen Griff, welcher letztere aber vorſchrifts-
mäßig nicht angeſteckt, geleimt, geſchraubt, ſondern an-
gewachſen ſein muß.
Eine große Hilfe beim Aufwärtsklimmen in Regionen,
in denen noch nicht alles Pflanzenleben erſtorben, gewährt
das Knieholz (Legföhren, Sprutföhren, Latſchen), deſſen
Stämmchen — ächte ſchweizer Naturen, ihrem Heimatsboden,
ſei er auch noch ſo hart und karg, mit unverbrüchlicher
Treue anhänglich — oft ſcheinbar ohne Spur von Erde mit
ihren Wurzeln an und in dem Felſen ſich ſo feſt klammern,
daß ſie eine treffliche Handhabe bieten und in der Regel die
Laſt eines ausgewachſenen Mannes zu tragen vermögen.
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/88>, abgerufen am 06.07.2024.
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