VII. Gesandte, Consuln -- Empfehlungsbriefe -- gebildete Familien.
Befolgung des Rathes in anderer Beziehung sein mag, zumal in fernen Ländern, wie in der Levante, wo es eins der ersten Geschäfte sein muß, sich dem Vertreter des Heimatlandes vor- zustellen.
Wer Gelegenheit hat, sich Empfehlungsbriefe zu verschaffen, mag sie nur auch ja nicht versäumen, denn wenn diese rechter Art sind und nicht blos auf einige Höflichkeiten und Einladungen auslaufen, so können sie alles vermitteln, was in den vorangegangenen Versuchen fehlschlug. Zunächst führen sie den Fremden in gebildete Familien ein und geben ihm Gelegenheit, Blicke zu thun in Sitten, Sinnesart und Anschauungen des Volks. Daß solche Familien nicht auch zum "Volke" gehörten und daß man in ihnen nur "verputztes, verschminktes, verwaschenes, schablonirtes Wesen", lediglich bei "Arbeitern" die "unverfälschte Menschennatur" suchen dürfe, dort Selbstsucht und Sittenlosigkeit, hier allein Güte und Reinheit fände -- wie gewisse Schriftsteller nicht müde werden, bald von diesem, bald von jenem Lande unter Donnerwortgepolter zu versichern -- davon habe ich mich nicht überzeugen können. Allerdings besteht in Familien jener Art mehr als in den untersten Kreisen die Neigung, gewisse nationelle Eigenthümlichkeiten abzuthun, gerade die werth- volleren, außerhalb der Tracht und Mundart liegenden blei- ben aber doch in der Regel unversehrt. In solchem Hause findet sich dann auch vielleicht Einer, an dessen Hand wir die Züge der Volkscharakteristik tiefer hinab verfolgen können, der als Dialektdolmetscher dient, auf die rechten Fundgruben aufmerksam macht und aus seinen Erfahrungen Beiträge und Erläuterungen gibt. Die große Masse der Empfehlungs- briefe bleibt fruchtlos durch Schuld der Persönlichkeit oder der Verhältnisse eines der drei Betheiligten, oder sind gar nur in der Absicht geschrieben, dem Ueberbringer eine wohl- feile Artigkeit zu erweisen, zuweilen so ungeschickt, daß diese Absicht zwischen den Zeilen des unverschlossenen Briefes auch für den Andern deutlich genug durchschimmert. Da die Offen-
VII. Geſandte, Conſuln — Empfehlungsbriefe — gebildete Familien.
Befolgung des Rathes in anderer Beziehung ſein mag, zumal in fernen Ländern, wie in der Levante, wo es eins der erſten Geſchäfte ſein muß, ſich dem Vertreter des Heimatlandes vor- zuſtellen.
Wer Gelegenheit hat, ſich Empfehlungsbriefe zu verſchaffen, mag ſie nur auch ja nicht verſäumen, denn wenn dieſe rechter Art ſind und nicht blos auf einige Höflichkeiten und Einladungen auslaufen, ſo können ſie alles vermitteln, was in den vorangegangenen Verſuchen fehlſchlug. Zunächſt führen ſie den Fremden in gebildete Familien ein und geben ihm Gelegenheit, Blicke zu thun in Sitten, Sinnesart und Anſchauungen des Volks. Daß ſolche Familien nicht auch zum „Volke“ gehörten und daß man in ihnen nur „verputztes, verſchminktes, verwaſchenes, ſchablonirtes Weſen“, lediglich bei „Arbeitern“ die „unverfälſchte Menſchennatur“ ſuchen dürfe, dort Selbſtſucht und Sittenloſigkeit, hier allein Güte und Reinheit fände — wie gewiſſe Schriftſteller nicht müde werden, bald von dieſem, bald von jenem Lande unter Donnerwortgepolter zu verſichern — davon habe ich mich nicht überzeugen können. Allerdings beſteht in Familien jener Art mehr als in den unterſten Kreiſen die Neigung, gewiſſe nationelle Eigenthümlichkeiten abzuthun, gerade die werth- volleren, außerhalb der Tracht und Mundart liegenden blei- ben aber doch in der Regel unverſehrt. In ſolchem Hauſe findet ſich dann auch vielleicht Einer, an deſſen Hand wir die Züge der Volkscharakteriſtik tiefer hinab verfolgen können, der als Dialektdolmetſcher dient, auf die rechten Fundgruben aufmerkſam macht und aus ſeinen Erfahrungen Beiträge und Erläuterungen gibt. Die große Maſſe der Empfehlungs- briefe bleibt fruchtlos durch Schuld der Perſönlichkeit oder der Verhältniſſe eines der drei Betheiligten, oder ſind gar nur in der Abſicht geſchrieben, dem Ueberbringer eine wohl- feile Artigkeit zu erweiſen, zuweilen ſo ungeſchickt, daß dieſe Abſicht zwiſchen den Zeilen des unverſchloſſenen Briefes auch für den Andern deutlich genug durchſchimmert. Da die Offen-
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VII. Geſandte, Conſuln — Empfehlungsbriefe — gebildete Familien.
Befolgung des Rathes in anderer Beziehung ſein mag, zumal
in fernen Ländern, wie in der Levante, wo es eins der erſten
Geſchäfte ſein muß, ſich dem Vertreter des Heimatlandes vor-
zuſtellen.
Wer Gelegenheit hat, ſich Empfehlungsbriefe zu
verſchaffen, mag ſie nur auch ja nicht verſäumen, denn wenn
dieſe rechter Art ſind und nicht blos auf einige Höflichkeiten
und Einladungen auslaufen, ſo können ſie alles vermitteln,
was in den vorangegangenen Verſuchen fehlſchlug. Zunächſt
führen ſie den Fremden in gebildete Familien ein und geben
ihm Gelegenheit, Blicke zu thun in Sitten, Sinnesart und
Anſchauungen des Volks. Daß ſolche Familien nicht auch
zum „Volke“ gehörten und daß man in ihnen nur „verputztes,
verſchminktes, verwaſchenes, ſchablonirtes Weſen“, lediglich
bei „Arbeitern“ die „unverfälſchte Menſchennatur“ ſuchen
dürfe, dort Selbſtſucht und Sittenloſigkeit, hier allein Güte
und Reinheit fände — wie gewiſſe Schriftſteller nicht müde
werden, bald von dieſem, bald von jenem Lande unter
Donnerwortgepolter zu verſichern — davon habe ich mich
nicht überzeugen können. Allerdings beſteht in Familien jener
Art mehr als in den unterſten Kreiſen die Neigung, gewiſſe
nationelle Eigenthümlichkeiten abzuthun, gerade die werth-
volleren, außerhalb der Tracht und Mundart liegenden blei-
ben aber doch in der Regel unverſehrt. In ſolchem Hauſe
findet ſich dann auch vielleicht Einer, an deſſen Hand wir
die Züge der Volkscharakteriſtik tiefer hinab verfolgen können,
der als Dialektdolmetſcher dient, auf die rechten Fundgruben
aufmerkſam macht und aus ſeinen Erfahrungen Beiträge und
Erläuterungen gibt. Die große Maſſe der Empfehlungs-
briefe bleibt fruchtlos durch Schuld der Perſönlichkeit oder
der Verhältniſſe eines der drei Betheiligten, oder ſind gar
nur in der Abſicht geſchrieben, dem Ueberbringer eine wohl-
feile Artigkeit zu erweiſen, zuweilen ſo ungeſchickt, daß dieſe
Abſicht zwiſchen den Zeilen des unverſchloſſenen Briefes auch
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/243>, abgerufen am 06.07.2024.
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