Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Berliner.
bei Betrachtung der Engländer geltend gemachte Gesichts-
punkte, die hier gleichfalls Anwendung finden, braucht nicht
von Neuem eingegangen zu werden, auch steht der Gegenstand
in Verbindung mit großen deutschen Fragen, deren Erörte-
rung sich unsre "Reiseschule" zu enthalten hat, nur die
Bemerkung sei gestattet, daß wir hier wieder Gelegenheit
haben, uns auf einer Selbsttäuschung zu ertappen. Im
Ernste glaubt Keiner von uns, daß der Bürger der nord-
deutschen Hauptstadt seine Hasenhaide schöner als das berner
Oberland
findet, daß er vor dem Traualtar die Frage des
Geistlichen: "Willst du ihr treu sein?" mit: "Allerdings"
beantwortet, daß ihm Alles in der Welt "höchst gleichgiltig"
ist, daß er selbst seiner Beistimmung stets eine impertinente
Form gibt, wie z. B. die Redensart: "auffallend richtig,"
daß in Berlin nur "Aufschneiderei und Windbeutelei" zu
Hause ist, daß die von da kommenden Alpendilettanten alle
von der Art des "Herrn von Strietzow" seien u. s. w. Nur
aus Mißfallen an gewissen Manieren, durch die sich unsre
Selbstschätzung verletzt fühlt, überreden wir uns, daß die
rauhe, bittere Schale auch einen ungenießbaren oder gar
keinen Kern berge. Deutschland hat doch nun aber das Be-
dürfniß, einig zu werden, und der Reisende viel Ursache, eine
Touristengattung, der er auf Schritt und Tritt begegnet,
nicht ohne jede Prüfung zu excommuniciren, so schlage ich
denn vor, wir Anderen wollen dem Berliner wie dem Eng-
länder gegenüber Gnade für Recht ergehen und uns nicht
von Aeußerlichkeiten zu raschen, absprechenden Urtheilen über
eine ganze Bevölkerung verleiten lassen, denn wir würden
sonst gerade in den Fehler fallen, der jenem hauptsächlich zum
Vorwurf gemacht wird. Unter den dreiviertel Millionen,
die zwischen Kreuzberg und Wedding wohnen, lebt in der
That eine gute Anzahl Menschen, die es verdienen, daß wir
ihren näheren Umgang nicht ablehnen sondern suchen, und je
mehr wir denen, mit welchen wir unterwegs in Contact
kommen, zeigen, daß sie keine Ursache haben, sich für Besseres

VII. Berliner.
bei Betrachtung der Engländer geltend gemachte Geſichts-
punkte, die hier gleichfalls Anwendung finden, braucht nicht
von Neuem eingegangen zu werden, auch ſteht der Gegenſtand
in Verbindung mit großen deutſchen Fragen, deren Erörte-
rung ſich unſre „Reiſeſchule“ zu enthalten hat, nur die
Bemerkung ſei geſtattet, daß wir hier wieder Gelegenheit
haben, uns auf einer Selbſttäuſchung zu ertappen. Im
Ernſte glaubt Keiner von uns, daß der Bürger der nord-
deutſchen Hauptſtadt ſeine Haſenhaide ſchöner als das berner
Oberland
findet, daß er vor dem Traualtar die Frage des
Geiſtlichen: „Willſt du ihr treu ſein?“ mit: „Allerdings“
beantwortet, daß ihm Alles in der Welt „höchſt gleichgiltig“
iſt, daß er ſelbſt ſeiner Beiſtimmung ſtets eine impertinente
Form gibt, wie z. B. die Redensart: „auffallend richtig,“
daß in Berlin nur „Aufſchneiderei und Windbeutelei“ zu
Hauſe iſt, daß die von da kommenden Alpendilettanten alle
von der Art des „Herrn von Strietzow“ ſeien u. ſ. w. Nur
aus Mißfallen an gewiſſen Manieren, durch die ſich unſre
Selbſtſchätzung verletzt fühlt, überreden wir uns, daß die
rauhe, bittere Schale auch einen ungenießbaren oder gar
keinen Kern berge. Deutſchland hat doch nun aber das Be-
dürfniß, einig zu werden, und der Reiſende viel Urſache, eine
Touriſtengattung, der er auf Schritt und Tritt begegnet,
nicht ohne jede Prüfung zu excommuniciren, ſo ſchlage ich
denn vor, wir Anderen wollen dem Berliner wie dem Eng-
länder gegenüber Gnade für Recht ergehen und uns nicht
von Aeußerlichkeiten zu raſchen, abſprechenden Urtheilen über
eine ganze Bevölkerung verleiten laſſen, denn wir würden
ſonſt gerade in den Fehler fallen, der jenem hauptſächlich zum
Vorwurf gemacht wird. Unter den dreiviertel Millionen,
die zwiſchen Kreuzberg und Wedding wohnen, lebt in der
That eine gute Anzahl Menſchen, die es verdienen, daß wir
ihren näheren Umgang nicht ablehnen ſondern ſuchen, und je
mehr wir denen, mit welchen wir unterwegs in Contact
kommen, zeigen, daß ſie keine Urſache haben, ſich für Beſſeres

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0229" n="215"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Berliner.</fw><lb/>
bei Betrachtung der Engländer geltend gemachte Ge&#x017F;ichts-<lb/>
punkte, die hier gleichfalls Anwendung finden, braucht nicht<lb/>
von Neuem eingegangen zu werden, auch &#x017F;teht der Gegen&#x017F;tand<lb/>
in Verbindung mit großen deut&#x017F;chen Fragen, deren Erörte-<lb/>
rung &#x017F;ich un&#x017F;re &#x201E;Rei&#x017F;e&#x017F;chule&#x201C; zu enthalten hat, nur die<lb/>
Bemerkung &#x017F;ei ge&#x017F;tattet, daß wir hier wieder Gelegenheit<lb/>
haben, uns auf einer Selb&#x017F;ttäu&#x017F;chung zu ertappen. Im<lb/>
Ern&#x017F;te glaubt Keiner von uns, daß der Bürger der nord-<lb/>
deut&#x017F;chen Haupt&#x017F;tadt &#x017F;eine Ha&#x017F;enhaide &#x017F;chöner als das <placeName>berner<lb/>
Oberland</placeName> findet, daß er vor dem Traualtar die Frage des<lb/>
Gei&#x017F;tlichen: &#x201E;Will&#x017F;t du ihr treu &#x017F;ein?&#x201C; mit: &#x201E;Allerdings&#x201C;<lb/>
beantwortet, daß ihm Alles in der Welt &#x201E;höch&#x017F;t gleichgiltig&#x201C;<lb/>
i&#x017F;t, daß er &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;einer Bei&#x017F;timmung &#x017F;tets eine impertinente<lb/>
Form gibt, wie z. B. die Redensart: &#x201E;auffallend richtig,&#x201C;<lb/>
daß in <placeName>Berlin</placeName> nur &#x201E;Auf&#x017F;chneiderei und Windbeutelei&#x201C; zu<lb/>
Hau&#x017F;e i&#x017F;t, daß die von da kommenden Alpendilettanten alle<lb/>
von der Art des &#x201E;Herrn von <persName ref="nognd">Strietzow</persName>&#x201C; &#x017F;eien u. &#x017F;. w. Nur<lb/>
aus Mißfallen an gewi&#x017F;&#x017F;en Manieren, durch die &#x017F;ich un&#x017F;re<lb/>
Selb&#x017F;t&#x017F;chätzung verletzt fühlt, überreden wir uns, daß die<lb/>
rauhe, bittere Schale auch einen ungenießbaren oder gar<lb/>
keinen Kern berge. <placeName>Deut&#x017F;chland</placeName> hat doch nun aber das Be-<lb/>
dürfniß, einig zu werden, und der Rei&#x017F;ende viel Ur&#x017F;ache, eine<lb/>
Touri&#x017F;tengattung, der er auf Schritt und Tritt begegnet,<lb/>
nicht ohne jede Prüfung zu excommuniciren, &#x017F;o &#x017F;chlage ich<lb/>
denn vor, wir Anderen wollen dem Berliner wie dem Eng-<lb/>
länder gegenüber Gnade für Recht ergehen und uns nicht<lb/>
von Aeußerlichkeiten zu ra&#x017F;chen, ab&#x017F;prechenden Urtheilen über<lb/>
eine ganze Bevölkerung verleiten la&#x017F;&#x017F;en, denn wir würden<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t gerade in den Fehler fallen, der jenem haupt&#x017F;ächlich zum<lb/>
Vorwurf gemacht wird. Unter den dreiviertel Millionen,<lb/>
die zwi&#x017F;chen <placeName>Kreuzberg</placeName> und <placeName>Wedding</placeName> wohnen, lebt in der<lb/>
That eine gute Anzahl Men&#x017F;chen, die es verdienen, daß wir<lb/>
ihren näheren Umgang nicht ablehnen &#x017F;ondern &#x017F;uchen, und je<lb/>
mehr wir denen, mit welchen wir unterwegs in Contact<lb/>
kommen, zeigen, daß &#x017F;ie keine Ur&#x017F;ache haben, &#x017F;ich für Be&#x017F;&#x017F;eres<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0229] VII. Berliner. bei Betrachtung der Engländer geltend gemachte Geſichts- punkte, die hier gleichfalls Anwendung finden, braucht nicht von Neuem eingegangen zu werden, auch ſteht der Gegenſtand in Verbindung mit großen deutſchen Fragen, deren Erörte- rung ſich unſre „Reiſeſchule“ zu enthalten hat, nur die Bemerkung ſei geſtattet, daß wir hier wieder Gelegenheit haben, uns auf einer Selbſttäuſchung zu ertappen. Im Ernſte glaubt Keiner von uns, daß der Bürger der nord- deutſchen Hauptſtadt ſeine Haſenhaide ſchöner als das berner Oberland findet, daß er vor dem Traualtar die Frage des Geiſtlichen: „Willſt du ihr treu ſein?“ mit: „Allerdings“ beantwortet, daß ihm Alles in der Welt „höchſt gleichgiltig“ iſt, daß er ſelbſt ſeiner Beiſtimmung ſtets eine impertinente Form gibt, wie z. B. die Redensart: „auffallend richtig,“ daß in Berlin nur „Aufſchneiderei und Windbeutelei“ zu Hauſe iſt, daß die von da kommenden Alpendilettanten alle von der Art des „Herrn von Strietzow“ ſeien u. ſ. w. Nur aus Mißfallen an gewiſſen Manieren, durch die ſich unſre Selbſtſchätzung verletzt fühlt, überreden wir uns, daß die rauhe, bittere Schale auch einen ungenießbaren oder gar keinen Kern berge. Deutſchland hat doch nun aber das Be- dürfniß, einig zu werden, und der Reiſende viel Urſache, eine Touriſtengattung, der er auf Schritt und Tritt begegnet, nicht ohne jede Prüfung zu excommuniciren, ſo ſchlage ich denn vor, wir Anderen wollen dem Berliner wie dem Eng- länder gegenüber Gnade für Recht ergehen und uns nicht von Aeußerlichkeiten zu raſchen, abſprechenden Urtheilen über eine ganze Bevölkerung verleiten laſſen, denn wir würden ſonſt gerade in den Fehler fallen, der jenem hauptſächlich zum Vorwurf gemacht wird. Unter den dreiviertel Millionen, die zwiſchen Kreuzberg und Wedding wohnen, lebt in der That eine gute Anzahl Menſchen, die es verdienen, daß wir ihren näheren Umgang nicht ablehnen ſondern ſuchen, und je mehr wir denen, mit welchen wir unterwegs in Contact kommen, zeigen, daß ſie keine Urſache haben, ſich für Beſſeres

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/229
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/229>, abgerufen am 25.11.2024.