V. Reisejagden -- Scheu vor Wiederholungen und Rückwegen.
jede Nacht in einem andren Bette schlafen, sondern von Hauptquartier zu Hauptquartier ziehen. Von dieser Reise- methode wird in Bezug auf Ersparnisse im VI. Capitel noch weiter gehandelt werden.
Von Gesundheit und Krankheit ist nun aber in diesem Abschnitt so viel die Rede, daß ich hier einmal unsre lästige A B C stunde der Diätetik unterbreche, und an Sie, meine Herren und Damen der vierten Classe D, ein paar Fragen mir erlaube. -- Ist es denn so gar "ennuyant", eine herr- liche Alpenlandschaft mehr als einmal zu betrachten? Sollten Sie nicht, ganz abgesehen von der Bequemlichkeit, auch mehr Genuß finden, wenn Sie auf Reisejagden verzichteten, welche Sie zu Sclaven des Minutenzeigers Ihrer Uhr, der Coursbücher, Dampfmaschinen, Pferde, Kutscher machen? Sollte nicht der "Sättigungspunkt" um so früher eintreten, je mehr durcheinander und je rascher Sie genießen? Und müssen nicht auch die geselligen Berührungen, je ununter- brochener Sie in Bewegung sind, um so oberflächlicher und unergiebiger ausfallen? -- Ehrlich gestanden: auch ich hatte ehemals eine heftige Scheu vor Rückwegen und besonders vor Wiederholungen, ich kam mir dabei vor wie ein Schulbube, dem seine Arbeit vom Lehrer zerrissen wird mit der Aufforderung, sie noch einmal zu machen. Als ich jedoch bemerkte, wie spurlos neue Eindrücke blieben, die rasch auf einander folgten, daß sogar manche erst bei öfterer Wieder- holung zu wirklichen Eindrücken wurden, bekämpfte ich jene Scheu methodisch und vertrieb sie.
Die touristische Nutzanwendung hiervon ist nun die: wer nicht mit außerordentlichem Gedächtniß, unwandelbarer Klar- heit und stets reger Empfänglichkeit ausgerüstet ist, thut wohl, alle ihm besonders werthvollen Gegenstände, um ihren Ein- druck sich zu erhalten, mehr als einmal zu betrachten.
Ganz besonders verlangen Hochgebirgslandschaften mit Muße und wiederholt beobachtet zu werden. Nur so lernt man die Berge kennen, noch mehr, man lernt sie lieben. "Die
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V. Reiſejagden — Scheu vor Wiederholungen und Rückwegen.
jede Nacht in einem andren Bette ſchlafen, ſondern von Hauptquartier zu Hauptquartier ziehen. Von dieſer Reiſe- methode wird in Bezug auf Erſparniſſe im VI. Capitel noch weiter gehandelt werden.
Von Geſundheit und Krankheit iſt nun aber in dieſem Abſchnitt ſo viel die Rede, daß ich hier einmal unſre läſtige A B C ſtunde der Diätetik unterbreche, und an Sie, meine Herren und Damen der vierten Claſſe D, ein paar Fragen mir erlaube. — Iſt es denn ſo gar „ennuyant“, eine herr- liche Alpenlandſchaft mehr als einmal zu betrachten? Sollten Sie nicht, ganz abgeſehen von der Bequemlichkeit, auch mehr Genuß finden, wenn Sie auf Reiſejagden verzichteten, welche Sie zu Sclaven des Minutenzeigers Ihrer Uhr, der Coursbücher, Dampfmaſchinen, Pferde, Kutſcher machen? Sollte nicht der „Sättigungspunkt“ um ſo früher eintreten, je mehr durcheinander und je raſcher Sie genießen? Und müſſen nicht auch die geſelligen Berührungen, je ununter- brochener Sie in Bewegung ſind, um ſo oberflächlicher und unergiebiger ausfallen? — Ehrlich geſtanden: auch ich hatte ehemals eine heftige Scheu vor Rückwegen und beſonders vor Wiederholungen, ich kam mir dabei vor wie ein Schulbube, dem ſeine Arbeit vom Lehrer zerriſſen wird mit der Aufforderung, ſie noch einmal zu machen. Als ich jedoch bemerkte, wie ſpurlos neue Eindrücke blieben, die raſch auf einander folgten, daß ſogar manche erſt bei öfterer Wieder- holung zu wirklichen Eindrücken wurden, bekämpfte ich jene Scheu methodiſch und vertrieb ſie.
Die touriſtiſche Nutzanwendung hiervon iſt nun die: wer nicht mit außerordentlichem Gedächtniß, unwandelbarer Klar- heit und ſtets reger Empfänglichkeit ausgerüſtet iſt, thut wohl, alle ihm beſonders werthvollen Gegenſtände, um ihren Ein- druck ſich zu erhalten, mehr als einmal zu betrachten.
Ganz beſonders verlangen Hochgebirgslandſchaften mit Muße und wiederholt beobachtet zu werden. Nur ſo lernt man die Berge kennen, noch mehr, man lernt ſie lieben. „Die
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V. Reiſejagden — Scheu vor Wiederholungen und Rückwegen.
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Hauptquartier zu Hauptquartier ziehen. Von dieſer Reiſe-
methode wird in Bezug auf Erſparniſſe im VI. Capitel noch
weiter gehandelt werden.
Von Geſundheit und Krankheit iſt nun aber in dieſem
Abſchnitt ſo viel die Rede, daß ich hier einmal unſre läſtige
A B C ſtunde der Diätetik unterbreche, und an Sie, meine
Herren und Damen der vierten Claſſe D, ein paar Fragen
mir erlaube. — Iſt es denn ſo gar „ennuyant“, eine herr-
liche Alpenlandſchaft mehr als einmal zu betrachten? Sollten
Sie nicht, ganz abgeſehen von der Bequemlichkeit, auch mehr
Genuß finden, wenn Sie auf Reiſejagden verzichteten,
welche Sie zu Sclaven des Minutenzeigers Ihrer Uhr, der
Coursbücher, Dampfmaſchinen, Pferde, Kutſcher machen?
Sollte nicht der „Sättigungspunkt“ um ſo früher eintreten,
je mehr durcheinander und je raſcher Sie genießen? Und
müſſen nicht auch die geſelligen Berührungen, je ununter-
brochener Sie in Bewegung ſind, um ſo oberflächlicher und
unergiebiger ausfallen? — Ehrlich geſtanden: auch ich hatte
ehemals eine heftige Scheu vor Rückwegen und beſonders
vor Wiederholungen, ich kam mir dabei vor wie ein
Schulbube, dem ſeine Arbeit vom Lehrer zerriſſen wird mit
der Aufforderung, ſie noch einmal zu machen. Als ich jedoch
bemerkte, wie ſpurlos neue Eindrücke blieben, die raſch auf
einander folgten, daß ſogar manche erſt bei öfterer Wieder-
holung zu wirklichen Eindrücken wurden, bekämpfte ich jene
Scheu methodiſch und vertrieb ſie.
Die touriſtiſche Nutzanwendung hiervon iſt nun die: wer
nicht mit außerordentlichem Gedächtniß, unwandelbarer Klar-
heit und ſtets reger Empfänglichkeit ausgerüſtet iſt, thut wohl,
alle ihm beſonders werthvollen Gegenſtände, um ihren Ein-
druck ſich zu erhalten, mehr als einmal zu betrachten.
Ganz beſonders verlangen Hochgebirgslandſchaften mit
Muße und wiederholt beobachtet zu werden. Nur ſo lernt
man die Berge kennen, noch mehr, man lernt ſie lieben. „Die
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/145>, abgerufen am 16.02.2025.
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