Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Läuferwahnsinn.
einmal zu decken, sondern auch noch durch "überschüssige gute
Werke" ein Capital für die nächsten Jahre zu erwerben,
mein Gangliensystem und den nervus sympathicus wieder
auf den Normalton hinauf zu stimmen, mit den Unterleibs-
organen auf den Friedensfuß zu gelangen, kurz einen neuen
Menschen anzuziehen. Zu meinem Unglück traf ich noch zwei
Studiosen, welche, als sie meinen Namen zufällig erfahren,
über ihre Begegnung mit einem so berühmten Manne die
rührendste Freude äußerten; in meinen Schriften wußten
die wackern Jungen besser als ich selbst Bescheid, mit einem
Worte, sie nahmen mein Gelehrtengemüth dermaßen ge-
fangen -- eine Beredtsamkeit des Herzens, deren nicht jeder
Lehrer von seinen Schülern theilhaftig wird, schaltete der er-
zählende Meister ein, mit einem Seitenblicke auf seine beiden
Gefährten -- daß ich nicht umhin konnte, ihrer Augen stilles
Sehnen zu erfüllen, und sie aufforderte, sich mir anzuschließen.
Beide schwelgten in Entzücken über den ersten Anblick der
Alpen und waren unersättlich im Klettern. Zwischen ihrer
Begeisterung und Jugendkraft und meiner mißverstandenen
Pflichttreue und Genesungssehnsucht entstand nun ein förm-
liches Wettrennen, das bald einen fieberhaften Charakter
annahm. Diese neue Krankheit, die ich Läuferwahnsinn
nenne, hat mit dem Säuferwahnsinn gemein, daß sie ihr
Opfer mit dämonischer Gewalt festhält und der Schaden
erst erkannt wird, wenn er nicht mehr gut zu machen ist.
. . . . Nun, die Frucht dieser vermeintlichen Erholungsreise
war eine Krankheit, die mich bis tief in den Herbst hinein
in Luzern festhielt, und eine sehr erhöhte Reizbarkeit. Mein
Unfall gab mir aber eine Lehre, aus der ich ein ganzes Lehr-
gebäude zu zimmern im Begriffe bin, so viel Material von
Beobachtungen und Folgerungen steht mir zu Gebote.
Warum lächeln Sie? Die Wissenschaft muß Capital aus
Allem machen.

-- Was werden, warf ich ein, Ihre Collegen von der
medicinischen Facultät dazu sagen, welcher Sie doch nicht

IV. Läuferwahnſinn.
einmal zu decken, ſondern auch noch durch „überſchüſſige gute
Werke“ ein Capital für die nächſten Jahre zu erwerben,
mein Ganglienſyſtem und den nervus sympathicus wieder
auf den Normalton hinauf zu ſtimmen, mit den Unterleibs-
organen auf den Friedensfuß zu gelangen, kurz einen neuen
Menſchen anzuziehen. Zu meinem Unglück traf ich noch zwei
Studioſen, welche, als ſie meinen Namen zufällig erfahren,
über ihre Begegnung mit einem ſo berühmten Manne die
rührendſte Freude äußerten; in meinen Schriften wußten
die wackern Jungen beſſer als ich ſelbſt Beſcheid, mit einem
Worte, ſie nahmen mein Gelehrtengemüth dermaßen ge-
fangen — eine Beredtſamkeit des Herzens, deren nicht jeder
Lehrer von ſeinen Schülern theilhaftig wird, ſchaltete der er-
zählende Meiſter ein, mit einem Seitenblicke auf ſeine beiden
Gefährten — daß ich nicht umhin konnte, ihrer Augen ſtilles
Sehnen zu erfüllen, und ſie aufforderte, ſich mir anzuſchließen.
Beide ſchwelgten in Entzücken über den erſten Anblick der
Alpen und waren unerſättlich im Klettern. Zwiſchen ihrer
Begeiſterung und Jugendkraft und meiner mißverſtandenen
Pflichttreue und Geneſungsſehnſucht entſtand nun ein förm-
liches Wettrennen, das bald einen fieberhaften Charakter
annahm. Dieſe neue Krankheit, die ich Läuferwahnſinn
nenne, hat mit dem Säuferwahnſinn gemein, daß ſie ihr
Opfer mit dämoniſcher Gewalt feſthält und der Schaden
erſt erkannt wird, wenn er nicht mehr gut zu machen iſt.
. . . . Nun, die Frucht dieſer vermeintlichen Erholungsreiſe
war eine Krankheit, die mich bis tief in den Herbſt hinein
in Luzern feſthielt, und eine ſehr erhöhte Reizbarkeit. Mein
Unfall gab mir aber eine Lehre, aus der ich ein ganzes Lehr-
gebäude zu zimmern im Begriffe bin, ſo viel Material von
Beobachtungen und Folgerungen ſteht mir zu Gebote.
Warum lächeln Sie? Die Wiſſenſchaft muß Capital aus
Allem machen.

— Was werden, warf ich ein, Ihre Collegen von der
mediciniſchen Facultät dazu ſagen, welcher Sie doch nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0108" n="94"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Läuferwahn&#x017F;inn.</fw><lb/>
einmal zu decken, &#x017F;ondern auch noch durch &#x201E;über&#x017F;chü&#x017F;&#x017F;ige gute<lb/>
Werke&#x201C; ein Capital für die näch&#x017F;ten Jahre zu erwerben,<lb/>
mein Ganglien&#x017F;y&#x017F;tem und den <hi rendition="#aq">nervus sympathicus</hi> wieder<lb/>
auf den Normalton hinauf zu &#x017F;timmen, mit den Unterleibs-<lb/>
organen auf den Friedensfuß zu gelangen, kurz einen neuen<lb/>
Men&#x017F;chen anzuziehen. Zu meinem Unglück traf ich noch zwei<lb/>
Studio&#x017F;en, welche, als &#x017F;ie meinen Namen zufällig erfahren,<lb/>
über ihre Begegnung mit einem &#x017F;o berühmten Manne die<lb/>
rührend&#x017F;te Freude äußerten; in meinen Schriften wußten<lb/>
die wackern Jungen be&#x017F;&#x017F;er als ich &#x017F;elb&#x017F;t Be&#x017F;cheid, mit einem<lb/>
Worte, &#x017F;ie nahmen mein Gelehrtengemüth dermaßen ge-<lb/>
fangen &#x2014; eine Beredt&#x017F;amkeit des Herzens, deren nicht jeder<lb/>
Lehrer von &#x017F;einen Schülern theilhaftig wird, &#x017F;chaltete der er-<lb/>
zählende Mei&#x017F;ter ein, mit einem Seitenblicke auf &#x017F;eine beiden<lb/>
Gefährten &#x2014; daß ich nicht umhin konnte, ihrer Augen &#x017F;tilles<lb/>
Sehnen zu erfüllen, und &#x017F;ie aufforderte, &#x017F;ich mir anzu&#x017F;chließen.<lb/>
Beide &#x017F;chwelgten in Entzücken über den er&#x017F;ten Anblick der<lb/><placeName>Alpen</placeName> und waren uner&#x017F;ättlich im Klettern. Zwi&#x017F;chen ihrer<lb/>
Begei&#x017F;terung und Jugendkraft und meiner mißver&#x017F;tandenen<lb/>
Pflichttreue und Gene&#x017F;ungs&#x017F;ehn&#x017F;ucht ent&#x017F;tand nun ein förm-<lb/>
liches Wettrennen, das bald einen fieberhaften Charakter<lb/>
annahm. Die&#x017F;e neue Krankheit, die ich <hi rendition="#g">Läuferwahn&#x017F;inn</hi><lb/>
nenne, hat mit dem Säuferwahn&#x017F;inn gemein, daß &#x017F;ie ihr<lb/>
Opfer mit dämoni&#x017F;cher Gewalt fe&#x017F;thält und der Schaden<lb/>
er&#x017F;t erkannt wird, wenn er nicht mehr gut zu machen i&#x017F;t.<lb/>
. . . . Nun, die Frucht die&#x017F;er vermeintlichen Erholungsrei&#x017F;e<lb/>
war eine Krankheit, die mich bis tief in den Herb&#x017F;t hinein<lb/>
in <placeName>Luzern</placeName> fe&#x017F;thielt, und eine &#x017F;ehr erhöhte Reizbarkeit. Mein<lb/>
Unfall gab mir aber eine Lehre, aus der ich ein ganzes Lehr-<lb/>
gebäude zu zimmern im Begriffe bin, &#x017F;o viel Material von<lb/>
Beobachtungen und Folgerungen &#x017F;teht mir zu Gebote.<lb/>
Warum lächeln Sie? Die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft muß Capital aus<lb/>
Allem machen.</p><lb/>
        <p>&#x2014; Was werden, warf ich ein, Ihre Collegen von der<lb/>
medicini&#x017F;chen Facultät dazu &#x017F;agen, welcher Sie doch nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0108] IV. Läuferwahnſinn. einmal zu decken, ſondern auch noch durch „überſchüſſige gute Werke“ ein Capital für die nächſten Jahre zu erwerben, mein Ganglienſyſtem und den nervus sympathicus wieder auf den Normalton hinauf zu ſtimmen, mit den Unterleibs- organen auf den Friedensfuß zu gelangen, kurz einen neuen Menſchen anzuziehen. Zu meinem Unglück traf ich noch zwei Studioſen, welche, als ſie meinen Namen zufällig erfahren, über ihre Begegnung mit einem ſo berühmten Manne die rührendſte Freude äußerten; in meinen Schriften wußten die wackern Jungen beſſer als ich ſelbſt Beſcheid, mit einem Worte, ſie nahmen mein Gelehrtengemüth dermaßen ge- fangen — eine Beredtſamkeit des Herzens, deren nicht jeder Lehrer von ſeinen Schülern theilhaftig wird, ſchaltete der er- zählende Meiſter ein, mit einem Seitenblicke auf ſeine beiden Gefährten — daß ich nicht umhin konnte, ihrer Augen ſtilles Sehnen zu erfüllen, und ſie aufforderte, ſich mir anzuſchließen. Beide ſchwelgten in Entzücken über den erſten Anblick der Alpen und waren unerſättlich im Klettern. Zwiſchen ihrer Begeiſterung und Jugendkraft und meiner mißverſtandenen Pflichttreue und Geneſungsſehnſucht entſtand nun ein förm- liches Wettrennen, das bald einen fieberhaften Charakter annahm. Dieſe neue Krankheit, die ich Läuferwahnſinn nenne, hat mit dem Säuferwahnſinn gemein, daß ſie ihr Opfer mit dämoniſcher Gewalt feſthält und der Schaden erſt erkannt wird, wenn er nicht mehr gut zu machen iſt. . . . . Nun, die Frucht dieſer vermeintlichen Erholungsreiſe war eine Krankheit, die mich bis tief in den Herbſt hinein in Luzern feſthielt, und eine ſehr erhöhte Reizbarkeit. Mein Unfall gab mir aber eine Lehre, aus der ich ein ganzes Lehr- gebäude zu zimmern im Begriffe bin, ſo viel Material von Beobachtungen und Folgerungen ſteht mir zu Gebote. Warum lächeln Sie? Die Wiſſenſchaft muß Capital aus Allem machen. — Was werden, warf ich ein, Ihre Collegen von der mediciniſchen Facultät dazu ſagen, welcher Sie doch nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/108
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/108>, abgerufen am 01.05.2024.