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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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der nicht die zufällige Einsicht eines einzelnen Menschen sein,
sondern die Einsicht des ganzen Staates oder seiner Lenker.
An der Spitze des Staats sollen nämlich nach Plato die
Wissenden stehen, welche die verschiedenen Naturen nach ihren
Gaben den verschiedenen Ständen: der Wissenden, der Krieger
und der Arbeiter (Handwerker und Ackerbauer), zutheilen. Auch
die Weiber werden diesen drei Ständen von den Lenkern zuge-
theilt, welche selbst Zeit und Personen der ehelichen Verbindung
bestimmen. Als Lohn der Arbeit, die Jeder verrichtet, geben ihm
die Wissenden das für die Befriedigung seiner Bedürfnisse Noth-
wendige. Es ist der erste auf Gemeinschaft gegründete Vorschlag
eines Staatslebens, von dem wir wissen. Die Kinder werden den
Eltern genommen und öffentlich erzogen, so daß Niemand seine
Eltern kennt. Alle jungen Leute eines gewissen Alters sehen die
älteren eines gewissen Alters als ihre Väter und Mütter an.
So wird, meint Plato, die Liebe und Brüderlichkeit das ganze
Volk durchdringen, und auch über Mein und Dein kein Streit
mehr sein, wie es edlen und guten Männern ziemt.

Die Gewohnheit des Einzellebens war aber schon zu sehr
erstarkt, als daß es sich eine solche Verletzung gefallen lassen
konnte gerade von einer Richtung, die, als von der Einsicht aus-
gehend, dasselbe vielmehr hätte hervorheben sollen. Und weil so
die Einsicht vom Einzelnen nur auf das Ganze übertragen wurde,
so erreichte der Platonische Staat gar nicht das, was er wollte,
den Aufschwung der geistigen Freiheit im Gegensatz zur selbstsüch-
tigen Willkür der damaligen Staatsführer. Denn die Freiheit
des Einzelnen muß selbst ein gesundes, dem Staatsleben einge-
gereihetes, nicht von ihm ausgeschlossenes Glied sein. Das ver-
fehlte Plato. Und so beweist ihm schon Aristoteles, daß er gerade
das Gegentheil von dem hervorbringe, was er bezwecke. Denn
wenn Niemand seine Eltern und Kinder kenne, so entstehe dadurch
Verwandtenmord, Blutschande u. s. w. Und wenn Niemand
Eigenthum habe, so falle damit auch der sittliche Gebrauch dessel-
ben zum Wohle Anderer, ja der Stachel zur Arbeit fort. Als
daher Plato von mehreren Staaten Griechenlands den Auftrag er-
hielt, ihnen eine Staatsverfassung zu geben, so scheiterte die Aus-
führung an dem Aufgeben des freien Eigenthums, das er ihnen

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der nicht die zufällige Einſicht eines einzelnen Menſchen ſein,
ſondern die Einſicht des ganzen Staates oder ſeiner Lenker.
An der Spitze des Staats ſollen nämlich nach Plato die
Wiſſenden ſtehen, welche die verſchiedenen Naturen nach ihren
Gaben den verſchiedenen Ständen: der Wiſſenden, der Krieger
und der Arbeiter (Handwerker und Ackerbauer), zutheilen. Auch
die Weiber werden dieſen drei Ständen von den Lenkern zuge-
theilt, welche ſelbſt Zeit und Perſonen der ehelichen Verbindung
beſtimmen. Als Lohn der Arbeit, die Jeder verrichtet, geben ihm
die Wiſſenden das für die Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe Noth-
wendige. Es iſt der erſte auf Gemeinſchaft gegründete Vorſchlag
eines Staatslebens, von dem wir wiſſen. Die Kinder werden den
Eltern genommen und öffentlich erzogen, ſo daß Niemand ſeine
Eltern kennt. Alle jungen Leute eines gewiſſen Alters ſehen die
älteren eines gewiſſen Alters als ihre Väter und Mütter an.
So wird, meint Plato, die Liebe und Brüderlichkeit das ganze
Volk durchdringen, und auch über Mein und Dein kein Streit
mehr ſein, wie es edlen und guten Männern ziemt.

Die Gewohnheit des Einzellebens war aber ſchon zu ſehr
erſtarkt, als daß es ſich eine ſolche Verletzung gefallen laſſen
konnte gerade von einer Richtung, die, als von der Einſicht aus-
gehend, daſſelbe vielmehr hätte hervorheben ſollen. Und weil ſo
die Einſicht vom Einzelnen nur auf das Ganze übertragen wurde,
ſo erreichte der Platoniſche Staat gar nicht das, was er wollte,
den Aufſchwung der geiſtigen Freiheit im Gegenſatz zur ſelbſtſüch-
tigen Willkür der damaligen Staatsführer. Denn die Freiheit
des Einzelnen muß ſelbſt ein geſundes, dem Staatsleben einge-
gereihetes, nicht von ihm ausgeſchloſſenes Glied ſein. Das ver-
fehlte Plato. Und ſo beweiſt ihm ſchon Ariſtoteles, daß er gerade
das Gegentheil von dem hervorbringe, was er bezwecke. Denn
wenn Niemand ſeine Eltern und Kinder kenne, ſo entſtehe dadurch
Verwandtenmord, Blutſchande u. ſ. w. Und wenn Niemand
Eigenthum habe, ſo falle damit auch der ſittliche Gebrauch deſſel-
ben zum Wohle Anderer, ja der Stachel zur Arbeit fort. Als
daher Plato von mehreren Staaten Griechenlands den Auftrag er-
hielt, ihnen eine Staatsverfaſſung zu geben, ſo ſcheiterte die Aus-
führung an dem Aufgeben des freien Eigenthums, das er ihnen

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[67/0077] der nicht die zufällige Einſicht eines einzelnen Menſchen ſein, ſondern die Einſicht des ganzen Staates oder ſeiner Lenker. An der Spitze des Staats ſollen nämlich nach Plato die Wiſſenden ſtehen, welche die verſchiedenen Naturen nach ihren Gaben den verſchiedenen Ständen: der Wiſſenden, der Krieger und der Arbeiter (Handwerker und Ackerbauer), zutheilen. Auch die Weiber werden dieſen drei Ständen von den Lenkern zuge- theilt, welche ſelbſt Zeit und Perſonen der ehelichen Verbindung beſtimmen. Als Lohn der Arbeit, die Jeder verrichtet, geben ihm die Wiſſenden das für die Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe Noth- wendige. Es iſt der erſte auf Gemeinſchaft gegründete Vorſchlag eines Staatslebens, von dem wir wiſſen. Die Kinder werden den Eltern genommen und öffentlich erzogen, ſo daß Niemand ſeine Eltern kennt. Alle jungen Leute eines gewiſſen Alters ſehen die älteren eines gewiſſen Alters als ihre Väter und Mütter an. So wird, meint Plato, die Liebe und Brüderlichkeit das ganze Volk durchdringen, und auch über Mein und Dein kein Streit mehr ſein, wie es edlen und guten Männern ziemt. Die Gewohnheit des Einzellebens war aber ſchon zu ſehr erſtarkt, als daß es ſich eine ſolche Verletzung gefallen laſſen konnte gerade von einer Richtung, die, als von der Einſicht aus- gehend, daſſelbe vielmehr hätte hervorheben ſollen. Und weil ſo die Einſicht vom Einzelnen nur auf das Ganze übertragen wurde, ſo erreichte der Platoniſche Staat gar nicht das, was er wollte, den Aufſchwung der geiſtigen Freiheit im Gegenſatz zur ſelbſtſüch- tigen Willkür der damaligen Staatsführer. Denn die Freiheit des Einzelnen muß ſelbſt ein geſundes, dem Staatsleben einge- gereihetes, nicht von ihm ausgeſchloſſenes Glied ſein. Das ver- fehlte Plato. Und ſo beweiſt ihm ſchon Ariſtoteles, daß er gerade das Gegentheil von dem hervorbringe, was er bezwecke. Denn wenn Niemand ſeine Eltern und Kinder kenne, ſo entſtehe dadurch Verwandtenmord, Blutſchande u. ſ. w. Und wenn Niemand Eigenthum habe, ſo falle damit auch der ſittliche Gebrauch deſſel- ben zum Wohle Anderer, ja der Stachel zur Arbeit fort. Als daher Plato von mehreren Staaten Griechenlands den Auftrag er- hielt, ihnen eine Staatsverfaſſung zu geben, ſo ſcheiterte die Aus- führung an dem Aufgeben des freien Eigenthums, das er ihnen 5*

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/77>, abgerufen am 24.11.2024.