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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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(Einleitung, VIII) die Beschränkung hinzugefügt: "soweit die
Hülfsmittel des Staates es zulassen;" was sich eigentlich von
selbst versteht, da Niemand über sein Vermögen zu leisten braucht.
Und beide genannten Gesetzgebungen erkennen auch das Recht der
Verpflegung Arbeitsunfähiger, d. h. ein allgemeines Recht auf
Ruhestandsgewährung, nicht nur der Staatsbeamten, an. Diese
Bestimmungen habe ich daher im §. 21. der unten vorgeschlagenen
Verfassung aufnehmen zu müssen geglaubt. Sie halten die Mitte
zwischen den Bestrebungen der Gemeinschafts- und der Gesell-
schafts-Lehre, nach denen der Staat und das Gesammtleben die
alleinige Sorge für das Wohl seiner Bürger übernimmt, und den
Erfahrungen der Volkswirthschaft, welche es den wilden Kämpfen
der Einzelnen überläßt, ob ihre Arbeit ihnen Erwerb und Genuß
gewährt, oder ob ihnen nur Elend und Mangel beschieden ist.

Die Volkswirthschaft ist eine Naturgeschichte der Arbeit, und
zählt die Widersprüche auf, in welche diese sich verwickelt und an
denen sie untergeht, wenn man sie sich selbst überläßt. Die Ver-
einslehrer sagen: wir suchen erst die Arbeit zu gliedern; worauf
die Lehrer der Volkswirthschaft antworten: sie ist schon gegliedert;
wir dagegen, uns in die richtige Mitte stellend: sie gliedert sich.
Die Verfassung des französischen Freistaats, die nicht das Recht
auf Arbeit unbedingt anerkennen wollte, hat mehr gethan; sie hat
im 13. Artikel die Gliederung der Arbeit eingeleitet, wie wir
unten sehen werden. Er lautet:

"Die Verfassung gewährleistet den Bürgern die Freiheit der
Arbeit und des Gewerbfleißes. Die Gesellschaft begünstigt und
ermuntert die Entwickelung der Arbeit durch den unentgeltlichen
Volks-Unterricht, durch gewerbliche Erziehung, Gleichheit der
Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, durch
Sicherungs- und Credit-Anstalten, landwirthschaftliche Anstal-
ten, freiwillige Vereine, durch Anordnung öffentlicher Arbeiten
des Staats, der Kreise und Gemeinden, um unbeschäftigte Hände
zu beschäftigen; sie nimmt sich der verlassenen Kinder an, der
Kranken, der unbemittelten Greise, die von ihren Familien keinen
Unterhalt bekommen können."

Die Gliederung, welche die Lehrer der Volkswirthschaft als sich
von selbst machend aussprechen zu können glauben, sind eben nur

(Einleitung, VIII) die Beſchränkung hinzugefügt: „ſoweit die
Hülfsmittel des Staates es zulaſſen;‟ was ſich eigentlich von
ſelbſt verſteht, da Niemand über ſein Vermögen zu leiſten braucht.
Und beide genannten Geſetzgebungen erkennen auch das Recht der
Verpflegung Arbeitsunfähiger, d. h. ein allgemeines Recht auf
Ruheſtandsgewährung, nicht nur der Staatsbeamten, an. Dieſe
Beſtimmungen habe ich daher im §. 21. der unten vorgeſchlagenen
Verfaſſung aufnehmen zu müſſen geglaubt. Sie halten die Mitte
zwiſchen den Beſtrebungen der Gemeinſchafts- und der Geſell-
ſchafts-Lehre, nach denen der Staat und das Geſammtleben die
alleinige Sorge für das Wohl ſeiner Bürger übernimmt, und den
Erfahrungen der Volkswirthſchaft, welche es den wilden Kämpfen
der Einzelnen überläßt, ob ihre Arbeit ihnen Erwerb und Genuß
gewährt, oder ob ihnen nur Elend und Mangel beſchieden iſt.

Die Volkswirthſchaft iſt eine Naturgeſchichte der Arbeit, und
zählt die Widerſprüche auf, in welche dieſe ſich verwickelt und an
denen ſie untergeht, wenn man ſie ſich ſelbſt überläßt. Die Ver-
einslehrer ſagen: wir ſuchen erſt die Arbeit zu gliedern; worauf
die Lehrer der Volkswirthſchaft antworten: ſie iſt ſchon gegliedert;
wir dagegen, uns in die richtige Mitte ſtellend: ſie gliedert ſich.
Die Verfaſſung des franzöſiſchen Freiſtaats, die nicht das Recht
auf Arbeit unbedingt anerkennen wollte, hat mehr gethan; ſie hat
im 13. Artikel die Gliederung der Arbeit eingeleitet, wie wir
unten ſehen werden. Er lautet:

„Die Verfaſſung gewährleiſtet den Bürgern die Freiheit der
Arbeit und des Gewerbfleißes. Die Geſellſchaft begünſtigt und
ermuntert die Entwickelung der Arbeit durch den unentgeltlichen
Volks-Unterricht, durch gewerbliche Erziehung, Gleichheit der
Verhältniſſe zwiſchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, durch
Sicherungs- und Credit-Anſtalten, landwirthſchaftliche Anſtal-
ten, freiwillige Vereine, durch Anordnung öffentlicher Arbeiten
des Staats, der Kreiſe und Gemeinden, um unbeſchäftigte Hände
zu beſchäftigen; ſie nimmt ſich der verlaſſenen Kinder an, der
Kranken, der unbemittelten Greiſe, die von ihren Familien keinen
Unterhalt bekommen können.‟

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[48/0058] (Einleitung, VIII) die Beſchränkung hinzugefügt: „ſoweit die Hülfsmittel des Staates es zulaſſen;‟ was ſich eigentlich von ſelbſt verſteht, da Niemand über ſein Vermögen zu leiſten braucht. Und beide genannten Geſetzgebungen erkennen auch das Recht der Verpflegung Arbeitsunfähiger, d. h. ein allgemeines Recht auf Ruheſtandsgewährung, nicht nur der Staatsbeamten, an. Dieſe Beſtimmungen habe ich daher im §. 21. der unten vorgeſchlagenen Verfaſſung aufnehmen zu müſſen geglaubt. Sie halten die Mitte zwiſchen den Beſtrebungen der Gemeinſchafts- und der Geſell- ſchafts-Lehre, nach denen der Staat und das Geſammtleben die alleinige Sorge für das Wohl ſeiner Bürger übernimmt, und den Erfahrungen der Volkswirthſchaft, welche es den wilden Kämpfen der Einzelnen überläßt, ob ihre Arbeit ihnen Erwerb und Genuß gewährt, oder ob ihnen nur Elend und Mangel beſchieden iſt. Die Volkswirthſchaft iſt eine Naturgeſchichte der Arbeit, und zählt die Widerſprüche auf, in welche dieſe ſich verwickelt und an denen ſie untergeht, wenn man ſie ſich ſelbſt überläßt. Die Ver- einslehrer ſagen: wir ſuchen erſt die Arbeit zu gliedern; worauf die Lehrer der Volkswirthſchaft antworten: ſie iſt ſchon gegliedert; wir dagegen, uns in die richtige Mitte ſtellend: ſie gliedert ſich. Die Verfaſſung des franzöſiſchen Freiſtaats, die nicht das Recht auf Arbeit unbedingt anerkennen wollte, hat mehr gethan; ſie hat im 13. Artikel die Gliederung der Arbeit eingeleitet, wie wir unten ſehen werden. Er lautet: „Die Verfaſſung gewährleiſtet den Bürgern die Freiheit der Arbeit und des Gewerbfleißes. Die Geſellſchaft begünſtigt und ermuntert die Entwickelung der Arbeit durch den unentgeltlichen Volks-Unterricht, durch gewerbliche Erziehung, Gleichheit der Verhältniſſe zwiſchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, durch Sicherungs- und Credit-Anſtalten, landwirthſchaftliche Anſtal- ten, freiwillige Vereine, durch Anordnung öffentlicher Arbeiten des Staats, der Kreiſe und Gemeinden, um unbeſchäftigte Hände zu beſchäftigen; ſie nimmt ſich der verlaſſenen Kinder an, der Kranken, der unbemittelten Greiſe, die von ihren Familien keinen Unterhalt bekommen können.‟ Die Gliederung, welche die Lehrer der Volkswirthſchaft als ſich von ſelbſt machend ausſprechen zu können glauben, ſind eben nur

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/58>, abgerufen am 24.11.2024.