Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

langsam vor, indem er ihn scharf im Auge behielt; denn die Veränderung an dem Burschen war so vollständig, daß er noch immer nicht wußte, was er von ihm denken sollte. Tobias, mit einer Sicherheit, als ob er unnahbar geworden und ihm keine Gewalt der Erde mehr was anhaben könnte, legte die Scheere weg. Seine Gesichtszüge milderten sich, seine Augen blickten in schönem Glanze immer verständiger, und das angenehmste Selbstbewußtsein sprach aus dem hübschen Gesicht. Ruhig ging er in die Küche, brachte eine Schüssel mit Wasser zurück, wusch sich die Rechte, nahm aus dem Wandschränkchen ein Pflaster heraus und beklebte die Wunde. Dann ergriff er die Scheere, betrachtete die Waffe, mit der er so große Dinge gethan hatte, einen Moment wohlgefällig, wusch auch sie und legte sie sorgfältig getrocknet auf den Tisch. Der Alte sah ihm schweigend zu; er sah das Vernünftige, Bedachtsame seine Thuns, er sah, daß er nicht nur nicht verrückt, sondern mehr als jemals bei gesundem Verstande sei. -- Er hatte verspielt.

Wer das menschliche Herz kennt, weiß, daß der Streit damit in der That aus war. Der Alte hatte ein Versprechen gegeben, einen Schwur gethan. Durch die Klagrede des Sohnes über sein eigenes Unrecht aufgeklärt, fühlte er zugleich, daß ein Mensch, der sich so benahm, ihm in dieser Sache nicht mehr nachgeben, und daß die Erneuerung seiner Gewaltsamkeit ihn zu nichts führen würde, als allenfalls zu häuslichem Unglück. Was aber die Hauptsache war -- der Bursch hatte ihm Respect

langsam vor, indem er ihn scharf im Auge behielt; denn die Veränderung an dem Burschen war so vollständig, daß er noch immer nicht wußte, was er von ihm denken sollte. Tobias, mit einer Sicherheit, als ob er unnahbar geworden und ihm keine Gewalt der Erde mehr was anhaben könnte, legte die Scheere weg. Seine Gesichtszüge milderten sich, seine Augen blickten in schönem Glanze immer verständiger, und das angenehmste Selbstbewußtsein sprach aus dem hübschen Gesicht. Ruhig ging er in die Küche, brachte eine Schüssel mit Wasser zurück, wusch sich die Rechte, nahm aus dem Wandschränkchen ein Pflaster heraus und beklebte die Wunde. Dann ergriff er die Scheere, betrachtete die Waffe, mit der er so große Dinge gethan hatte, einen Moment wohlgefällig, wusch auch sie und legte sie sorgfältig getrocknet auf den Tisch. Der Alte sah ihm schweigend zu; er sah das Vernünftige, Bedachtsame seine Thuns, er sah, daß er nicht nur nicht verrückt, sondern mehr als jemals bei gesundem Verstande sei. — Er hatte verspielt.

Wer das menschliche Herz kennt, weiß, daß der Streit damit in der That aus war. Der Alte hatte ein Versprechen gegeben, einen Schwur gethan. Durch die Klagrede des Sohnes über sein eigenes Unrecht aufgeklärt, fühlte er zugleich, daß ein Mensch, der sich so benahm, ihm in dieser Sache nicht mehr nachgeben, und daß die Erneuerung seiner Gewaltsamkeit ihn zu nichts führen würde, als allenfalls zu häuslichem Unglück. Was aber die Hauptsache war — der Bursch hatte ihm Respect

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="5">
        <p><pb facs="#f0177"/>
langsam vor, indem er ihn scharf im Auge      behielt; denn die Veränderung an dem Burschen war so vollständig, daß er noch immer nicht      wußte, was er von ihm denken sollte. Tobias, mit einer Sicherheit, als ob er unnahbar geworden      und ihm keine Gewalt der Erde mehr was anhaben könnte, legte die Scheere weg. Seine      Gesichtszüge milderten sich, seine Augen blickten in schönem Glanze immer verständiger, und das      angenehmste Selbstbewußtsein sprach aus dem hübschen Gesicht. Ruhig ging er in die Küche,      brachte eine Schüssel mit Wasser zurück, wusch sich die Rechte, nahm aus dem Wandschränkchen      ein Pflaster heraus und beklebte die Wunde. Dann ergriff er die Scheere, betrachtete die Waffe,      mit der er so große Dinge gethan hatte, einen Moment wohlgefällig, wusch auch sie und legte sie      sorgfältig getrocknet auf den Tisch. Der Alte sah ihm schweigend zu; er sah das Vernünftige,      Bedachtsame seine Thuns, er sah, daß er nicht nur nicht verrückt, sondern mehr als jemals bei      gesundem Verstande sei. &#x2014; Er hatte verspielt.</p><lb/>
        <p>Wer das menschliche Herz kennt, weiß, daß der Streit damit in der That aus war. Der Alte      hatte ein Versprechen gegeben, einen Schwur gethan. Durch die Klagrede des Sohnes über sein      eigenes Unrecht aufgeklärt, fühlte er zugleich, daß ein Mensch, der sich so benahm, ihm in      dieser Sache nicht mehr nachgeben, und daß die Erneuerung seiner Gewaltsamkeit ihn zu nichts      führen würde, als allenfalls zu häuslichem Unglück. Was aber die Hauptsache war &#x2014; der Bursch      hatte ihm Respect<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0177] langsam vor, indem er ihn scharf im Auge behielt; denn die Veränderung an dem Burschen war so vollständig, daß er noch immer nicht wußte, was er von ihm denken sollte. Tobias, mit einer Sicherheit, als ob er unnahbar geworden und ihm keine Gewalt der Erde mehr was anhaben könnte, legte die Scheere weg. Seine Gesichtszüge milderten sich, seine Augen blickten in schönem Glanze immer verständiger, und das angenehmste Selbstbewußtsein sprach aus dem hübschen Gesicht. Ruhig ging er in die Küche, brachte eine Schüssel mit Wasser zurück, wusch sich die Rechte, nahm aus dem Wandschränkchen ein Pflaster heraus und beklebte die Wunde. Dann ergriff er die Scheere, betrachtete die Waffe, mit der er so große Dinge gethan hatte, einen Moment wohlgefällig, wusch auch sie und legte sie sorgfältig getrocknet auf den Tisch. Der Alte sah ihm schweigend zu; er sah das Vernünftige, Bedachtsame seine Thuns, er sah, daß er nicht nur nicht verrückt, sondern mehr als jemals bei gesundem Verstande sei. — Er hatte verspielt. Wer das menschliche Herz kennt, weiß, daß der Streit damit in der That aus war. Der Alte hatte ein Versprechen gegeben, einen Schwur gethan. Durch die Klagrede des Sohnes über sein eigenes Unrecht aufgeklärt, fühlte er zugleich, daß ein Mensch, der sich so benahm, ihm in dieser Sache nicht mehr nachgeben, und daß die Erneuerung seiner Gewaltsamkeit ihn zu nichts führen würde, als allenfalls zu häuslichem Unglück. Was aber die Hauptsache war — der Bursch hatte ihm Respect

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/177
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/177>, abgerufen am 27.11.2024.