Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn er die Ausführung seines Entschlusses vertagte, hatte er nicht ganz Unrecht. Einen Bruch mit seinem Vater gab's zwar immer; aber es war doch nicht einerlei, ob er unter gelindern oder heftigern Formen statthatte. Dermalen war für die Antragstellung in der That die ungelegenste Zeit. Der Alte zeigte sich in den tiefsten Unmuth versunken und ging mit einem Gesicht herum, das auch einem Andern scheugebietend vorgekommen wäre. Er hatte seinerseits erfahren, daß man die Streiche des Burschen und seine Abstrafung kannte, und daß sie Beide in den Mäulern der Leute herumgetragen wurden. Er mußte sich denken, daß auch die Sibylle unterrichtet sei, und daß die Hoffnung, den Burschen mit ihr zu verheirathen, auf den schwächsten Füßen stehe. Die Schande der Familie war dem Mann, der nach außen eine Art von Würde behauptet hatte, eben so empfindlich, wie der mögliche Verlust eines schon besessenen Vortheils ärgerlich und die Ungewißheit der Lage peinlich. Wer hätte an eine solche Person Worte richten mögen, welche die gährenden Stoffe zur Eruption bringen mußten? Tobias konnte froh sein, daß der Alte nicht anfing; und er war es auch. Mit der Zeit wurde der Erbos'te ja doch anders -- dann konnte man "in der Art" mit ihm reden, und er nahm Raison an.

Vater und Sohn bedienten sich im unumgänglichen Verkehr der äußersten Einsilbigkeit und saßen meist beisammen oder liefen um einander herum, als ob sie sich gar nichts angingen. Tobias nähte mit immer größerm

Wenn er die Ausführung seines Entschlusses vertagte, hatte er nicht ganz Unrecht. Einen Bruch mit seinem Vater gab's zwar immer; aber es war doch nicht einerlei, ob er unter gelindern oder heftigern Formen statthatte. Dermalen war für die Antragstellung in der That die ungelegenste Zeit. Der Alte zeigte sich in den tiefsten Unmuth versunken und ging mit einem Gesicht herum, das auch einem Andern scheugebietend vorgekommen wäre. Er hatte seinerseits erfahren, daß man die Streiche des Burschen und seine Abstrafung kannte, und daß sie Beide in den Mäulern der Leute herumgetragen wurden. Er mußte sich denken, daß auch die Sibylle unterrichtet sei, und daß die Hoffnung, den Burschen mit ihr zu verheirathen, auf den schwächsten Füßen stehe. Die Schande der Familie war dem Mann, der nach außen eine Art von Würde behauptet hatte, eben so empfindlich, wie der mögliche Verlust eines schon besessenen Vortheils ärgerlich und die Ungewißheit der Lage peinlich. Wer hätte an eine solche Person Worte richten mögen, welche die gährenden Stoffe zur Eruption bringen mußten? Tobias konnte froh sein, daß der Alte nicht anfing; und er war es auch. Mit der Zeit wurde der Erbos'te ja doch anders — dann konnte man „in der Art“ mit ihm reden, und er nahm Raison an.

Vater und Sohn bedienten sich im unumgänglichen Verkehr der äußersten Einsilbigkeit und saßen meist beisammen oder liefen um einander herum, als ob sie sich gar nichts angingen. Tobias nähte mit immer größerm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="5">
        <pb facs="#f0154"/>
        <p>Wenn er die Ausführung seines Entschlusses vertagte, hatte er nicht ganz Unrecht. Einen Bruch      mit seinem Vater gab's zwar immer; aber es war doch nicht einerlei, ob er unter gelindern oder      heftigern Formen statthatte. Dermalen war für die Antragstellung in der That die ungelegenste      Zeit. Der Alte zeigte sich in den tiefsten Unmuth versunken und ging mit einem Gesicht herum,      das auch einem Andern scheugebietend vorgekommen wäre. Er hatte seinerseits erfahren, daß man      die Streiche des Burschen und seine Abstrafung kannte, und daß sie Beide in den Mäulern der      Leute herumgetragen wurden. Er mußte sich denken, daß auch die Sibylle unterrichtet sei, und      daß die Hoffnung, den Burschen mit ihr zu verheirathen, auf den schwächsten Füßen stehe. Die      Schande der Familie war dem Mann, der nach außen eine Art von Würde behauptet hatte, eben so      empfindlich, wie der mögliche Verlust eines schon besessenen Vortheils ärgerlich und die      Ungewißheit der Lage peinlich. Wer hätte an eine solche Person Worte richten mögen, welche die      gährenden Stoffe zur Eruption bringen mußten? Tobias konnte froh sein, daß der Alte nicht      anfing; und er war es auch. Mit der Zeit wurde der Erbos'te ja doch anders &#x2014; dann konnte man      &#x201E;in der Art&#x201C; mit ihm reden, und er nahm Raison an.</p><lb/>
        <p>Vater und Sohn bedienten sich im unumgänglichen Verkehr der äußersten Einsilbigkeit und saßen      meist beisammen oder liefen um einander herum, als ob sie sich gar nichts angingen. Tobias      nähte mit immer größerm<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0154] Wenn er die Ausführung seines Entschlusses vertagte, hatte er nicht ganz Unrecht. Einen Bruch mit seinem Vater gab's zwar immer; aber es war doch nicht einerlei, ob er unter gelindern oder heftigern Formen statthatte. Dermalen war für die Antragstellung in der That die ungelegenste Zeit. Der Alte zeigte sich in den tiefsten Unmuth versunken und ging mit einem Gesicht herum, das auch einem Andern scheugebietend vorgekommen wäre. Er hatte seinerseits erfahren, daß man die Streiche des Burschen und seine Abstrafung kannte, und daß sie Beide in den Mäulern der Leute herumgetragen wurden. Er mußte sich denken, daß auch die Sibylle unterrichtet sei, und daß die Hoffnung, den Burschen mit ihr zu verheirathen, auf den schwächsten Füßen stehe. Die Schande der Familie war dem Mann, der nach außen eine Art von Würde behauptet hatte, eben so empfindlich, wie der mögliche Verlust eines schon besessenen Vortheils ärgerlich und die Ungewißheit der Lage peinlich. Wer hätte an eine solche Person Worte richten mögen, welche die gährenden Stoffe zur Eruption bringen mußten? Tobias konnte froh sein, daß der Alte nicht anfing; und er war es auch. Mit der Zeit wurde der Erbos'te ja doch anders — dann konnte man „in der Art“ mit ihm reden, und er nahm Raison an. Vater und Sohn bedienten sich im unumgänglichen Verkehr der äußersten Einsilbigkeit und saßen meist beisammen oder liefen um einander herum, als ob sie sich gar nichts angingen. Tobias nähte mit immer größerm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/154
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/154>, abgerufen am 24.11.2024.