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Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.

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Thaten der Gnade. IV. Stück.
unserer seligen Person, war wegen ihren
Sünden lebendig angegriffen, sie war so
ausgelährt und demüthig, daß sie sich nicht
genug beugen und erniedrigen konnte, aber
ihre Traurigkeit war mehr innerlich als
äusserlich, mehr Evangelisch als Gesetzlich,
sie war recht tief zerschmelzt, und ihr Geist
zermalmet, daß sie den liebreichen himmli-
schen Vater als ein unartiges Kind so viel
beleidiget, den freundlichen Heyland, der
seine Liebe mit seinem letzten Blutstropfen
gegen sie versiegelt, so sehr verwundet, und
den guten Geist der Gnade so öfters betrü-
bet, und gedämpfet habe. Sie zeigte aber
die Schmerzen ihrer Seelenwunden ihrem
erbarmenden Arzte in der Stille, machte
gar kein Wesen daraus, und wartete in
Gelassenheit, auf den Balsam, der sie hei-
len sollte.

Es fehlte indessen unserer Seligen auch
nicht an öfteren harten Ständen, es gabe
zuweilen schwere Stunden, ängstliche Prü-
fungen und Kämpfe. Bald meynte sie, der
HErr könne und wolle ihr nicht gnädig
seyn, daß sie gleichsam mit Assaph klagen
müßte: Hat denn GOtt vergessen
gnädig zu seyn? Hat er seine Barm-
herzigkeit durch Zorn verschlossen?

Psalm 77:10. Zu Zeiten fürchtete sie, wenn
schon die Barmherzigkeit GOttes unendlich

wäre,

Thaten der Gnade. IV. Stuͤck.
unſerer ſeligen Perſon, war wegen ihren
Suͤnden lebendig angegriffen, ſie war ſo
ausgelaͤhrt und demuͤthig, daß ſie ſich nicht
genug beugen und erniedrigen konnte, aber
ihre Traurigkeit war mehr innerlich als
aͤuſſerlich, mehr Evangeliſch als Geſetzlich,
ſie war recht tief zerſchmelzt, und ihr Geiſt
zermalmet, daß ſie den liebreichen himmli-
ſchen Vater als ein unartiges Kind ſo viel
beleidiget, den freundlichen Heyland, der
ſeine Liebe mit ſeinem letzten Blutstropfen
gegen ſie verſiegelt, ſo ſehr verwundet, und
den guten Geiſt der Gnade ſo oͤfters betruͤ-
bet, und gedaͤmpfet habe. Sie zeigte aber
die Schmerzen ihrer Seelenwunden ihrem
erbarmenden Arzte in der Stille, machte
gar kein Weſen daraus, und wartete in
Gelaſſenheit, auf den Balſam, der ſie hei-
len ſollte.

Es fehlte indeſſen unſerer Seligen auch
nicht an oͤfteren harten Staͤnden, es gabe
zuweilen ſchwere Stunden, aͤngſtliche Pruͤ-
fungen und Kaͤmpfe. Bald meynte ſie, der
HErr koͤnne und wolle ihr nicht gnaͤdig
ſeyn, daß ſie gleichſam mit Aſſaph klagen
muͤßte: Hat denn GOtt vergeſſen
gnaͤdig zu ſeyn? Hat er ſeine Barm-
herzigkeit durch Zorn verſchloſſen?

Pſalm 77:10. Zu Zeiten fuͤrchtete ſie, wenn
ſchon die Barmherzigkeit GOttes unendlich

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[335/0387] Thaten der Gnade. IV. Stuͤck. unſerer ſeligen Perſon, war wegen ihren Suͤnden lebendig angegriffen, ſie war ſo ausgelaͤhrt und demuͤthig, daß ſie ſich nicht genug beugen und erniedrigen konnte, aber ihre Traurigkeit war mehr innerlich als aͤuſſerlich, mehr Evangeliſch als Geſetzlich, ſie war recht tief zerſchmelzt, und ihr Geiſt zermalmet, daß ſie den liebreichen himmli- ſchen Vater als ein unartiges Kind ſo viel beleidiget, den freundlichen Heyland, der ſeine Liebe mit ſeinem letzten Blutstropfen gegen ſie verſiegelt, ſo ſehr verwundet, und den guten Geiſt der Gnade ſo oͤfters betruͤ- bet, und gedaͤmpfet habe. Sie zeigte aber die Schmerzen ihrer Seelenwunden ihrem erbarmenden Arzte in der Stille, machte gar kein Weſen daraus, und wartete in Gelaſſenheit, auf den Balſam, der ſie hei- len ſollte. Es fehlte indeſſen unſerer Seligen auch nicht an oͤfteren harten Staͤnden, es gabe zuweilen ſchwere Stunden, aͤngſtliche Pruͤ- fungen und Kaͤmpfe. Bald meynte ſie, der HErr koͤnne und wolle ihr nicht gnaͤdig ſeyn, daß ſie gleichſam mit Aſſaph klagen muͤßte: Hat denn GOtt vergeſſen gnaͤdig zu ſeyn? Hat er ſeine Barm- herzigkeit durch Zorn verſchloſſen? Pſalm 77:10. Zu Zeiten fuͤrchtete ſie, wenn ſchon die Barmherzigkeit GOttes unendlich waͤre,

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Zitationshilfe: Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/387>, abgerufen am 22.11.2024.