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Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.

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Thaten der Gnade. III. Stück.
als genug auf der Canzel hören, denn man
fühlt etwas auf dem Herzen, dafür man
einen gar besondern Rath und Unterricht
nöthig hat. O wenn doch das jedermann
merkte! und mehr mit seinem Seelsorger
von der Sache des Heils reden, den eigent-
lichen Zustand der Seele ihm entdecken, und
nach denen waltenden Umständen Rath und
Anweisung suchen würde! Ein Lehrer wird
ohne diesen besondern Umgang und Ver-
trauen seines Zuhörers schwerlich ein nützli-
ches Werkzeug zum Leben seiner Seele wer-
den können. Trägt er schon öffentlich auf
eine gesalbete Weise die theuersten Wahr-
heiten vor, wird schon zu Zeiten der Zuhö-
rer zum Beyfall gebracht, angegriffen und
aufgewecket, so hat doch eine jede Seele so
viele besondere Hindernisse, daß ohne Ent-
deckung derselben der Fortgang und völlige
Durchbruch zum wahren Wesen in dem
Christenthum schwerlich wird bewürket wer-
den können. Was würde einer auch von
denen erfahrnesten Aerzten für Nutzen schaf-
fen, wenn er schon lange in einem Kranken-
hause, auf die angenehmste Art die besten
Recepte denen tödlich darnieder liegenden
vorlesen, und die köstlichsten Arzneyen auf
die bündigste Weise ihnen anpreisen würde,
wenn er aber von jedem Kranken die Um-
stände seines Uebels nicht aufrichtig erfah-

ren,

Thaten der Gnade. III. Stuͤck.
als genug auf der Canzel hoͤren, denn man
fuͤhlt etwas auf dem Herzen, dafuͤr man
einen gar beſondern Rath und Unterricht
noͤthig hat. O wenn doch das jedermann
merkte! und mehr mit ſeinem Seelſorger
von der Sache des Heils reden, den eigent-
lichen Zuſtand der Seele ihm entdecken, und
nach denen waltenden Umſtaͤnden Rath und
Anweiſung ſuchen wuͤrde! Ein Lehrer wird
ohne dieſen beſondern Umgang und Ver-
trauen ſeines Zuhoͤrers ſchwerlich ein nuͤtzli-
ches Werkzeug zum Leben ſeiner Seele wer-
den koͤnnen. Traͤgt er ſchon oͤffentlich auf
eine geſalbete Weiſe die theuerſten Wahr-
heiten vor, wird ſchon zu Zeiten der Zuhoͤ-
rer zum Beyfall gebracht, angegriffen und
aufgewecket, ſo hat doch eine jede Seele ſo
viele beſondere Hinderniſſe, daß ohne Ent-
deckung derſelben der Fortgang und voͤllige
Durchbruch zum wahren Weſen in dem
Chriſtenthum ſchwerlich wird bewuͤrket wer-
den koͤnnen. Was wuͤrde einer auch von
denen erfahrneſten Aerzten fuͤr Nutzen ſchaf-
fen, wenn er ſchon lange in einem Kranken-
hauſe, auf die angenehmſte Art die beſten
Recepte denen toͤdlich darnieder liegenden
vorleſen, und die koͤſtlichſten Arzneyen auf
die buͤndigſte Weiſe ihnen anpreiſen wuͤrde,
wenn er aber von jedem Kranken die Um-
ſtaͤnde ſeines Uebels nicht aufrichtig erfah-

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[219/0271] Thaten der Gnade. III. Stuͤck. als genug auf der Canzel hoͤren, denn man fuͤhlt etwas auf dem Herzen, dafuͤr man einen gar beſondern Rath und Unterricht noͤthig hat. O wenn doch das jedermann merkte! und mehr mit ſeinem Seelſorger von der Sache des Heils reden, den eigent- lichen Zuſtand der Seele ihm entdecken, und nach denen waltenden Umſtaͤnden Rath und Anweiſung ſuchen wuͤrde! Ein Lehrer wird ohne dieſen beſondern Umgang und Ver- trauen ſeines Zuhoͤrers ſchwerlich ein nuͤtzli- ches Werkzeug zum Leben ſeiner Seele wer- den koͤnnen. Traͤgt er ſchon oͤffentlich auf eine geſalbete Weiſe die theuerſten Wahr- heiten vor, wird ſchon zu Zeiten der Zuhoͤ- rer zum Beyfall gebracht, angegriffen und aufgewecket, ſo hat doch eine jede Seele ſo viele beſondere Hinderniſſe, daß ohne Ent- deckung derſelben der Fortgang und voͤllige Durchbruch zum wahren Weſen in dem Chriſtenthum ſchwerlich wird bewuͤrket wer- den koͤnnen. Was wuͤrde einer auch von denen erfahrneſten Aerzten fuͤr Nutzen ſchaf- fen, wenn er ſchon lange in einem Kranken- hauſe, auf die angenehmſte Art die beſten Recepte denen toͤdlich darnieder liegenden vorleſen, und die koͤſtlichſten Arzneyen auf die buͤndigſte Weiſe ihnen anpreiſen wuͤrde, wenn er aber von jedem Kranken die Um- ſtaͤnde ſeines Uebels nicht aufrichtig erfah- ren,

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Zitationshilfe: Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/271>, abgerufen am 10.05.2024.