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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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"Diesen grauen Bären vergiß mir nicht auf die
Fahrt mitzunehmen, Lucretia, seine Treue ist alt und
seine Tatzen sind noch gefährlich," sagte er freundlich,
sprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenster.
Er zögerte zu scheiden. "Die Nacht ist klar geworden,"
sprach er hinausblickend, "wann gedenkst du zu reisen?"

"Morgen vor Tag," erwiederte Lucretia. "Durch
Pancraz wirst du zuerst von mir hören. Jürg, du bist
ein gar großer Herr geworden, -- wie könnt' es dir
fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich boten¬
laufen!" Und die Thränen traten ihr in die Augen.

Dieses halb muthwillige, halb traurige Wort ge¬
hörte wieder ganz der Lucretia seiner Jugendtage. Sie
stand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht
zu bräunlicher Gesundheit im Hauche ihrer Berge. Der
Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die
sich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöst
hatten und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit
einer lautern Kraft, wie sie unter dem ermattenden
Himmel des Südens nicht gedeiht.

Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er
widerstand nicht und umfing sie.

"Mir ist, es sei noch nicht lange her, daß wir
da unten mit einander spielten," sagte er weich und zeigte

„Dieſen grauen Bären vergiß mir nicht auf die
Fahrt mitzunehmen, Lucretia, ſeine Treue iſt alt und
ſeine Tatzen ſind noch gefährlich,“ ſagte er freundlich,
ſprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenſter.
Er zögerte zu ſcheiden. „Die Nacht iſt klar geworden,“
ſprach er hinausblickend, „wann gedenkſt du zu reiſen?“

„Morgen vor Tag,“ erwiederte Lucretia. „Durch
Pancraz wirſt du zuerſt von mir hören. Jürg, du biſt
ein gar großer Herr geworden, — wie könnt' es dir
fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich boten¬
laufen!“ Und die Thränen traten ihr in die Augen.

Dieſes halb muthwillige, halb traurige Wort ge¬
hörte wieder ganz der Lucretia ſeiner Jugendtage. Sie
ſtand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht
zu bräunlicher Geſundheit im Hauche ihrer Berge. Der
Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die
ſich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöſt
hatten und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit
einer lautern Kraft, wie ſie unter dem ermattenden
Himmel des Südens nicht gedeiht.

Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er
widerſtand nicht und umfing ſie.

„Mir iſt, es ſei noch nicht lange her, daß wir
da unten mit einander ſpielten,“ ſagte er weich und zeigte

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[294/0304] „Dieſen grauen Bären vergiß mir nicht auf die Fahrt mitzunehmen, Lucretia, ſeine Treue iſt alt und ſeine Tatzen ſind noch gefährlich,“ ſagte er freundlich, ſprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenſter. Er zögerte zu ſcheiden. „Die Nacht iſt klar geworden,“ ſprach er hinausblickend, „wann gedenkſt du zu reiſen?“ „Morgen vor Tag,“ erwiederte Lucretia. „Durch Pancraz wirſt du zuerſt von mir hören. Jürg, du biſt ein gar großer Herr geworden, — wie könnt' es dir fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich boten¬ laufen!“ Und die Thränen traten ihr in die Augen. Dieſes halb muthwillige, halb traurige Wort ge¬ hörte wieder ganz der Lucretia ſeiner Jugendtage. Sie ſtand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht zu bräunlicher Geſundheit im Hauche ihrer Berge. Der Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die ſich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöſt hatten und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit einer lautern Kraft, wie ſie unter dem ermattenden Himmel des Südens nicht gedeiht. Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er widerſtand nicht und umfing ſie. „Mir iſt, es ſei noch nicht lange her, daß wir da unten mit einander ſpielten,“ ſagte er weich und zeigte

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/304>, abgerufen am 19.05.2024.