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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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nicht ungern die Erkennungsscene um einen Moment
hinausgeschoben, den er benutzte, um sich in Jürgs ge¬
genwärtiger Gestalt zurecht zu finden. Seit jenem
hoffnungslosen Abschied in Zürich waren nur zufällige
und verworrene Nachrichten von Jenatsch und dessen
Schicksalen in verschiedenen protestantischen Heeren an
sein Ohr gelangt; und im Laufe der Zeit hatte sich
Jürgs Bild in Wasers Seele zu einer unbestimmten
und räthselhaften Traumfigur verzogen. --

So drückte er ihm denn freundschaftlich, aber etwas
förmlich und verlegen die Hand und beschränkte sich
darauf, angelegentlich nach seinem gegenwärtigen Befin¬
den und jetzigen Range sich zu erkundigen. Dann be¬
stieg auch er die Gondel und die beiden Offiziere stan¬
den sich auf dem Campo dei Frari allein gegenüber.

"Wenn es Euch genehm ist, Herr Hauptmann,"
begann Wertmüller, "erfülle ich von meinen drei Auf¬
trägen den mittleren zuerst und führe Euch auf den
Markusplatz in das von mir erprobte und gutgeheißene
Gasthaus zu den Spiegeln. Hernach lustwandeln wir
ein Stündchen in den Arkaden unter den venetianischen
Schönheiten. Erfreut sich dieses Programm der Zu¬
stimmung des Herrn Kameraden?"

Der streng wissenschaftlich geschulte, ehrsüchtige Wert¬
müller glaubte sich die vertrauliche Anrede dem älteren,

10*

nicht ungern die Erkennungsſcene um einen Moment
hinausgeſchoben, den er benutzte, um ſich in Jürgs ge¬
genwärtiger Geſtalt zurecht zu finden. Seit jenem
hoffnungsloſen Abſchied in Zürich waren nur zufällige
und verworrene Nachrichten von Jenatſch und deſſen
Schickſalen in verſchiedenen proteſtantiſchen Heeren an
ſein Ohr gelangt; und im Laufe der Zeit hatte ſich
Jürgs Bild in Waſers Seele zu einer unbeſtimmten
und räthſelhaften Traumfigur verzogen. —

So drückte er ihm denn freundſchaftlich, aber etwas
förmlich und verlegen die Hand und beſchränkte ſich
darauf, angelegentlich nach ſeinem gegenwärtigen Befin¬
den und jetzigen Range ſich zu erkundigen. Dann be¬
ſtieg auch er die Gondel und die beiden Offiziere ſtan¬
den ſich auf dem Campo dei Frari allein gegenüber.

„Wenn es Euch genehm iſt, Herr Hauptmann,“
begann Wertmüller, „erfülle ich von meinen drei Auf¬
trägen den mittleren zuerſt und führe Euch auf den
Markusplatz in das von mir erprobte und gutgeheißene
Gaſthaus zu den Spiegeln. Hernach luſtwandeln wir
ein Stündchen in den Arkaden unter den venetianiſchen
Schönheiten. Erfreut ſich dieſes Programm der Zu¬
ſtimmung des Herrn Kameraden?“

Der ſtreng wiſſenſchaftlich geſchulte, ehrſüchtige Wert¬
müller glaubte ſich die vertrauliche Anrede dem älteren,

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[147/0157] nicht ungern die Erkennungsſcene um einen Moment hinausgeſchoben, den er benutzte, um ſich in Jürgs ge¬ genwärtiger Geſtalt zurecht zu finden. Seit jenem hoffnungsloſen Abſchied in Zürich waren nur zufällige und verworrene Nachrichten von Jenatſch und deſſen Schickſalen in verſchiedenen proteſtantiſchen Heeren an ſein Ohr gelangt; und im Laufe der Zeit hatte ſich Jürgs Bild in Waſers Seele zu einer unbeſtimmten und räthſelhaften Traumfigur verzogen. — So drückte er ihm denn freundſchaftlich, aber etwas förmlich und verlegen die Hand und beſchränkte ſich darauf, angelegentlich nach ſeinem gegenwärtigen Befin¬ den und jetzigen Range ſich zu erkundigen. Dann be¬ ſtieg auch er die Gondel und die beiden Offiziere ſtan¬ den ſich auf dem Campo dei Frari allein gegenüber. „Wenn es Euch genehm iſt, Herr Hauptmann,“ begann Wertmüller, „erfülle ich von meinen drei Auf¬ trägen den mittleren zuerſt und führe Euch auf den Markusplatz in das von mir erprobte und gutgeheißene Gaſthaus zu den Spiegeln. Hernach luſtwandeln wir ein Stündchen in den Arkaden unter den venetianiſchen Schönheiten. Erfreut ſich dieſes Programm der Zu¬ ſtimmung des Herrn Kameraden?“ Der ſtreng wiſſenſchaftlich geſchulte, ehrſüchtige Wert¬ müller glaubte ſich die vertrauliche Anrede dem älteren, 10*

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/157>, abgerufen am 06.05.2024.