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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Die Jungfrau.
Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,
Die droh'nden Augen, lieblich, wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarotti's großem Bild:
Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges
Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,
Im Schoße seines Mantelbuges
Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:
Voran ein Wesen nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keusch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer schlanken Traumgestalt.
Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet,
Mit Augen schaut sie tief erschreckt,
Wie Adam Er den Funken spendet
Und seine Rechte mahnend reckt.
Sie sieht den Schlumm'rer sich erheben,
Der das bewußte Sein empfängt,
Auch sie sehnt dunkel sich zu leben,
An Gottes Schulter still gedrängt --
So harrst du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffnest staunend deinen Blick.

Die Jungfrau.
Wo ſah ich, Mädchen, deine Züge,
Die droh'nden Augen, lieblich, wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarotti's großem Bild:
Der Schöpfer ſenkt ſich ſachten Fluges
Zum Menſchen, welcher ſchlummernd liegt,
Im Schoße ſeines Mantelbuges
Ruht himmliſches Geſind geſchmiegt:
Voran ein Weſen nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keuſch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer ſchlanken Traumgeſtalt.
Sie lauſcht, das Haupt hervorgewendet,
Mit Augen ſchaut ſie tief erſchreckt,
Wie Adam Er den Funken ſpendet
Und ſeine Rechte mahnend reckt.
Sie ſieht den Schlumm'rer ſich erheben,
Der das bewußte Sein empfängt,
Auch ſie ſehnt dunkel ſich zu leben,
An Gottes Schulter ſtill gedrängt —
So harrſt du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefeſſelt vom Geſchick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffneſt ſtaunend deinen Blick.

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[16/0030] Die Jungfrau. Wo ſah ich, Mädchen, deine Züge, Die droh'nden Augen, lieblich, wild, Noch rein von Eitelkeit und Lüge? Auf Buonarotti's großem Bild: Der Schöpfer ſenkt ſich ſachten Fluges Zum Menſchen, welcher ſchlummernd liegt, Im Schoße ſeines Mantelbuges Ruht himmliſches Geſind geſchmiegt: Voran ein Weſen nicht zu nennen, Von Gottes Mantel keuſch umwallt, Des Weibes Züge, zu erkennen In einer ſchlanken Traumgeſtalt. Sie lauſcht, das Haupt hervorgewendet, Mit Augen ſchaut ſie tief erſchreckt, Wie Adam Er den Funken ſpendet Und ſeine Rechte mahnend reckt. Sie ſieht den Schlumm'rer ſich erheben, Der das bewußte Sein empfängt, Auch ſie ſehnt dunkel ſich zu leben, An Gottes Schulter ſtill gedrängt — So harrſt du vor des Lebens Schranke, Noch ungefeſſelt vom Geſchick, Ein unentweihter Gottgedanke, Und öffneſt ſtaunend deinen Blick.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/30>, abgerufen am 28.11.2024.