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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Märchenlustig bin ich wie Scheherban,
Wie die plaudernde Scheherezade!
Und ich bat den Mönch: "Erzähle, Vater,
Deinem Sohn die tröstliche Legende."
Bruder Anaklet willfahrte sprechend:
"Einst, vor ungezählten vielen Jahren --
Also steht's im Pergament verzeichnet,
Das ich gründlich lernte schon als Knabe --
Zogen Pilger nach dem Grab vorüber
Ohne Rast und ohne Trunk und Speise
Scheuen Fußes an der Stadt Damaskus,
Denn verhaßt ist Christus in Damaskus!
Vor der Stadt Damaskus rauscht ein Brunnen,
Wo ein Löwenkopf aus seines Maules
Tief herabgezognen Winkeln sprudelt
Ein begehrtes köstlich kühles Wasser.
Dort am Brunnen stand die Sarazenin.
Schleierlos, die jungen warmen Augen
Fünfzehnjährig oder sechszehnjährig,
Stand am Brunnen eine Sarazenin,
Die den schlanken Krug gelassen füllte.
Alle Pilger zogen ihr vorüber
Mit gesenktem Haupte niederblickend,
Denn die Moslimweiber treiben Künste.
Märchenluſtig bin ich wie Scheherban,
Wie die plaudernde Scheherezade!
Und ich bat den Mönch: „Erzähle, Vater,
Deinem Sohn die tröſtliche Legende.“
Bruder Anaklet willfahrte ſprechend:
„Einſt, vor ungezählten vielen Jahren —
Alſo ſteht's im Pergament verzeichnet,
Das ich gründlich lernte ſchon als Knabe —
Zogen Pilger nach dem Grab vorüber
Ohne Raſt und ohne Trunk und Speiſe
Scheuen Fußes an der Stadt Damaskus,
Denn verhaßt iſt Chriſtus in Damaskus!
Vor der Stadt Damaskus rauſcht ein Brunnen,
Wo ein Löwenkopf aus ſeines Maules
Tief herabgezognen Winkeln ſprudelt
Ein begehrtes köſtlich kühles Waſſer.
Dort am Brunnen ſtand die Sarazenin.
Schleierlos, die jungen warmen Augen
Fünfzehnjährig oder ſechszehnjährig,
Stand am Brunnen eine Sarazenin,
Die den ſchlanken Krug gelaſſen füllte.
Alle Pilger zogen ihr vorüber
Mit geſenktem Haupte niederblickend,
Denn die Moslimweiber treiben Künſte.
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[232/0246] Märchenluſtig bin ich wie Scheherban, Wie die plaudernde Scheherezade! Und ich bat den Mönch: „Erzähle, Vater, Deinem Sohn die tröſtliche Legende.“ Bruder Anaklet willfahrte ſprechend: „Einſt, vor ungezählten vielen Jahren — Alſo ſteht's im Pergament verzeichnet, Das ich gründlich lernte ſchon als Knabe — Zogen Pilger nach dem Grab vorüber Ohne Raſt und ohne Trunk und Speiſe Scheuen Fußes an der Stadt Damaskus, Denn verhaßt iſt Chriſtus in Damaskus! Vor der Stadt Damaskus rauſcht ein Brunnen, Wo ein Löwenkopf aus ſeines Maules Tief herabgezognen Winkeln ſprudelt Ein begehrtes köſtlich kühles Waſſer. Dort am Brunnen ſtand die Sarazenin. Schleierlos, die jungen warmen Augen Fünfzehnjährig oder ſechszehnjährig, Stand am Brunnen eine Sarazenin, Die den ſchlanken Krug gelaſſen füllte. Alle Pilger zogen ihr vorüber Mit geſenktem Haupte niederblickend, Denn die Moslimweiber treiben Künſte.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/246>, abgerufen am 28.04.2024.