Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Schule des Silen.
In der schattendunkeln Laube gab Silen, der weise, Stunde,
Der ihm weich ans Knie geschmiegte Bacchus hing an seinem Munde,
Lieblich lauschend.
Unter seinem krausen Barte lachte freundlich der Ergraute,
Da er in das milde Feuer junger Götteraugen schaute,
Dann begann er:
"Kind, betrachte dieses Antlitz, die gedankenschweren Lider!
Kind, in jedem greisen Zecher ehre du die Züge wieder
Deines Lehrers.
Oft, wo die Veliten wankten, jene prahlerischen Knaben,
Sind es die Triarier, Liebling, die das Feld behauptet haben
Unerschüttert!
Wenn auf Chios mit dem Mädchen theilt den Becher der Ephebe,
Laß sie nippen, laß sie kosen -- mit der vollsten Schale schwebe
Du vorüber.
Lenke deine götterleichten Schritte zu Homer dem alten,
Netze seine heil'gen Lippen, glätte seiner Stirne Falten,
Wunderthäter!
Lös ihm jeder Erdenschwere Fessel mit der Hand, der milden,
Fülle du des Blinden Auge mit unsterblichen Gebilden,
Ewig schönen!"

Die Schule des Silen.
In der ſchattendunkeln Laube gab Silen, der weiſe, Stunde,
Der ihm weich ans Knie geſchmiegte Bacchus hing an ſeinem Munde,
Lieblich lauſchend.
Unter ſeinem krauſen Barte lachte freundlich der Ergraute,
Da er in das milde Feuer junger Götteraugen ſchaute,
Dann begann er:
„Kind, betrachte dieſes Antlitz, die gedankenſchweren Lider!
Kind, in jedem greiſen Zecher ehre du die Züge wieder
Deines Lehrers.
Oft, wo die Veliten wankten, jene prahleriſchen Knaben,
Sind es die Triarier, Liebling, die das Feld behauptet haben
Unerſchüttert!
Wenn auf Chios mit dem Mädchen theilt den Becher der Ephebe,
Laß ſie nippen, laß ſie koſen — mit der vollſten Schale ſchwebe
Du vorüber.
Lenke deine götterleichten Schritte zu Homer dem alten,
Netze ſeine heil'gen Lippen, glätte ſeiner Stirne Falten,
Wunderthäter!
Lös ihm jeder Erdenſchwere Feſſel mit der Hand, der milden,
Fülle du des Blinden Auge mit unſterblichen Gebilden,
Ewig ſchönen!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0199" n="[185]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Schule des Silen.</hi><lb/>
          </head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>In der &#x017F;chattendunkeln Laube gab Silen, der wei&#x017F;e, Stunde,</l><lb/>
              <l>Der ihm weich ans Knie ge&#x017F;chmiegte Bacchus hing an &#x017F;einem Munde,</l><lb/>
              <l>Lieblich lau&#x017F;chend.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>Unter &#x017F;einem krau&#x017F;en Barte lachte freundlich der Ergraute,</l><lb/>
              <l>Da er in das milde Feuer junger Götteraugen &#x017F;chaute,</l><lb/>
              <l>Dann begann er:</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>&#x201E;Kind, betrachte die&#x017F;es Antlitz, die gedanken&#x017F;chweren Lider!</l><lb/>
              <l>Kind, in jedem grei&#x017F;en Zecher ehre du die Züge wieder</l><lb/>
              <l>Deines Lehrers.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Oft, wo die Veliten wankten, jene prahleri&#x017F;chen Knaben,</l><lb/>
              <l>Sind es die Triarier, Liebling, die das Feld behauptet haben</l><lb/>
              <l>Uner&#x017F;chüttert!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>Wenn auf Chios mit dem Mädchen theilt den Becher der Ephebe,</l><lb/>
              <l>Laß &#x017F;ie nippen, laß &#x017F;ie ko&#x017F;en &#x2014; mit der voll&#x017F;ten Schale &#x017F;chwebe</l><lb/>
              <l>Du vorüber.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="6">
              <l>Lenke deine götterleichten Schritte zu Homer dem alten,</l><lb/>
              <l>Netze &#x017F;eine heil'gen Lippen, glätte &#x017F;einer Stirne Falten,</l><lb/>
              <l>Wunderthäter!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="7">
              <l>Lös ihm jeder Erden&#x017F;chwere Fe&#x017F;&#x017F;el mit der Hand, der milden,</l><lb/>
              <l>Fülle du des Blinden Auge mit un&#x017F;terblichen Gebilden,</l><lb/>
              <l>Ewig &#x017F;chönen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[185]/0199] Die Schule des Silen. In der ſchattendunkeln Laube gab Silen, der weiſe, Stunde, Der ihm weich ans Knie geſchmiegte Bacchus hing an ſeinem Munde, Lieblich lauſchend. Unter ſeinem krauſen Barte lachte freundlich der Ergraute, Da er in das milde Feuer junger Götteraugen ſchaute, Dann begann er: „Kind, betrachte dieſes Antlitz, die gedankenſchweren Lider! Kind, in jedem greiſen Zecher ehre du die Züge wieder Deines Lehrers. Oft, wo die Veliten wankten, jene prahleriſchen Knaben, Sind es die Triarier, Liebling, die das Feld behauptet haben Unerſchüttert! Wenn auf Chios mit dem Mädchen theilt den Becher der Ephebe, Laß ſie nippen, laß ſie koſen — mit der vollſten Schale ſchwebe Du vorüber. Lenke deine götterleichten Schritte zu Homer dem alten, Netze ſeine heil'gen Lippen, glätte ſeiner Stirne Falten, Wunderthäter! Lös ihm jeder Erdenſchwere Feſſel mit der Hand, der milden, Fülle du des Blinden Auge mit unſterblichen Gebilden, Ewig ſchönen!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/199
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. [185]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/199>, abgerufen am 25.11.2024.