Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

sie sich aus den mannigfachen Quellen der Völker
wieder in die zusammenschlagenden Wellen eines un¬
endlichen Meeres. Die christliche Romantik war
aber versunken in das bewegliche Element des Ge¬
müthes, wie jene ältere Poesie erstarrt in den sinn¬
lichen Formen. Daher war sie an dieselbe Conse¬
quenz gefessellt und auch in ihr waltete noch ein ge¬
wisser Instinkt, der bestimmte Gränzen nicht über¬
schreiten konnte, innerhalb derselben aber mit voll¬
kommener Sicherheit sich bewegte, und wie die an¬
tike Poesie hat auch die romantische etwas Clas¬
sisches.

Dieses Classische, die unwillkürliche Sicherheit
und Harmonie des Gegenstandes und der Form, in
welcher die Kunstwerke vollkommen den Werken der
Natur gleichen, und noch von demselben schöpferischen
Triebe gebildet scheinen, der den Himmel, die Berge,
die Pflanzen und Thiere so und nicht anders geschaf¬
fen, als müßt' es so seyn, dies ist es eigentlich, was
alle ältere Poesie von der modernen unterscheidet.
Die poetische Begeisterung jener Alten war schaffen¬
der Naturtrieb, ohne Wahl, ohne Schwanken. Die
unsrige ist Sache der Reflexion geworden, und wir
wählen und schwanken.

Die neuere Poesie ist ganz theatralisch. Man
geht in die Poesie, wie man ins Schauspielhaus
geht, um sich auf eine angenehme Weise zu täuschen
und zu unterhalten. Die Poesie ist nicht mehr mit
dem Leben verbunden, die höchste Blüthe desselben,

ſie ſich aus den mannigfachen Quellen der Voͤlker
wieder in die zuſammenſchlagenden Wellen eines un¬
endlichen Meeres. Die chriſtliche Romantik war
aber verſunken in das bewegliche Element des Ge¬
muͤthes, wie jene aͤltere Poeſie erſtarrt in den ſinn¬
lichen Formen. Daher war ſie an dieſelbe Conſe¬
quenz gefeſſellt und auch in ihr waltete noch ein ge¬
wiſſer Inſtinkt, der beſtimmte Graͤnzen nicht uͤber¬
ſchreiten konnte, innerhalb derſelben aber mit voll¬
kommener Sicherheit ſich bewegte, und wie die an¬
tike Poeſie hat auch die romantiſche etwas Claſ¬
ſiſches.

Dieſes Claſſiſche, die unwillkuͤrliche Sicherheit
und Harmonie des Gegenſtandes und der Form, in
welcher die Kunſtwerke vollkommen den Werken der
Natur gleichen, und noch von demſelben ſchoͤpferiſchen
Triebe gebildet ſcheinen, der den Himmel, die Berge,
die Pflanzen und Thiere ſo und nicht anders geſchaf¬
fen, als muͤßt' es ſo ſeyn, dies iſt es eigentlich, was
alle aͤltere Poeſie von der modernen unterſcheidet.
Die poetiſche Begeiſterung jener Alten war ſchaffen¬
der Naturtrieb, ohne Wahl, ohne Schwanken. Die
unſrige iſt Sache der Reflexion geworden, und wir
waͤhlen und ſchwanken.

Die neuere Poeſie iſt ganz theatraliſch. Man
geht in die Poeſie, wie man ins Schauſpielhaus
geht, um ſich auf eine angenehme Weiſe zu taͤuſchen
und zu unterhalten. Die Poeſie iſt nicht mehr mit
dem Leben verbunden, die hoͤchſte Bluͤthe deſſelben,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0071" n="61"/>
&#x017F;ie &#x017F;ich aus den mannigfachen Quellen der Vo&#x0364;lker<lb/>
wieder in die zu&#x017F;ammen&#x017F;chlagenden Wellen eines un¬<lb/>
endlichen Meeres. Die chri&#x017F;tliche Romantik war<lb/>
aber ver&#x017F;unken in das bewegliche Element des Ge¬<lb/>
mu&#x0364;thes, wie jene a&#x0364;ltere Poe&#x017F;ie er&#x017F;tarrt in den &#x017F;inn¬<lb/>
lichen Formen. Daher war &#x017F;ie an die&#x017F;elbe Con&#x017F;<lb/>
quenz gefe&#x017F;&#x017F;ellt und auch in ihr waltete noch ein ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;er In&#x017F;tinkt, der be&#x017F;timmte Gra&#x0364;nzen nicht u&#x0364;ber¬<lb/>
&#x017F;chreiten konnte, innerhalb der&#x017F;elben aber mit voll¬<lb/>
kommener Sicherheit &#x017F;ich bewegte, und wie die an¬<lb/>
tike Poe&#x017F;ie hat auch die romanti&#x017F;che etwas Cla&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;i&#x017F;ches.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es Cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che, die unwillku&#x0364;rliche Sicherheit<lb/>
und Harmonie des Gegen&#x017F;tandes und der Form, in<lb/>
welcher die Kun&#x017F;twerke vollkommen den Werken der<lb/>
Natur gleichen, und noch von dem&#x017F;elben &#x017F;cho&#x0364;pferi&#x017F;chen<lb/>
Triebe gebildet &#x017F;cheinen, der den Himmel, die Berge,<lb/>
die Pflanzen und Thiere &#x017F;o und nicht anders ge&#x017F;chaf¬<lb/>
fen, als mu&#x0364;ßt' es &#x017F;o &#x017F;eyn, dies i&#x017F;t es eigentlich, was<lb/>
alle a&#x0364;ltere Poe&#x017F;ie von der modernen unter&#x017F;cheidet.<lb/>
Die poeti&#x017F;che Begei&#x017F;terung jener Alten war &#x017F;chaffen¬<lb/>
der Naturtrieb, ohne Wahl, ohne Schwanken. Die<lb/>
un&#x017F;rige i&#x017F;t Sache der Reflexion geworden, und wir<lb/>
wa&#x0364;hlen und &#x017F;chwanken.</p><lb/>
        <p>Die neuere Poe&#x017F;ie i&#x017F;t ganz <hi rendition="#g">theatrali&#x017F;ch</hi>. Man<lb/>
geht in die Poe&#x017F;ie, wie man ins Schau&#x017F;pielhaus<lb/>
geht, um &#x017F;ich auf eine angenehme Wei&#x017F;e zu ta&#x0364;u&#x017F;chen<lb/>
und zu unterhalten. Die Poe&#x017F;ie i&#x017F;t nicht mehr mit<lb/>
dem Leben verbunden, die ho&#x0364;ch&#x017F;te Blu&#x0364;the de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0071] ſie ſich aus den mannigfachen Quellen der Voͤlker wieder in die zuſammenſchlagenden Wellen eines un¬ endlichen Meeres. Die chriſtliche Romantik war aber verſunken in das bewegliche Element des Ge¬ muͤthes, wie jene aͤltere Poeſie erſtarrt in den ſinn¬ lichen Formen. Daher war ſie an dieſelbe Conſe¬ quenz gefeſſellt und auch in ihr waltete noch ein ge¬ wiſſer Inſtinkt, der beſtimmte Graͤnzen nicht uͤber¬ ſchreiten konnte, innerhalb derſelben aber mit voll¬ kommener Sicherheit ſich bewegte, und wie die an¬ tike Poeſie hat auch die romantiſche etwas Claſ¬ ſiſches. Dieſes Claſſiſche, die unwillkuͤrliche Sicherheit und Harmonie des Gegenſtandes und der Form, in welcher die Kunſtwerke vollkommen den Werken der Natur gleichen, und noch von demſelben ſchoͤpferiſchen Triebe gebildet ſcheinen, der den Himmel, die Berge, die Pflanzen und Thiere ſo und nicht anders geſchaf¬ fen, als muͤßt' es ſo ſeyn, dies iſt es eigentlich, was alle aͤltere Poeſie von der modernen unterſcheidet. Die poetiſche Begeiſterung jener Alten war ſchaffen¬ der Naturtrieb, ohne Wahl, ohne Schwanken. Die unſrige iſt Sache der Reflexion geworden, und wir waͤhlen und ſchwanken. Die neuere Poeſie iſt ganz theatraliſch. Man geht in die Poeſie, wie man ins Schauſpielhaus geht, um ſich auf eine angenehme Weiſe zu taͤuſchen und zu unterhalten. Die Poeſie iſt nicht mehr mit dem Leben verbunden, die hoͤchſte Bluͤthe deſſelben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/71
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/71>, abgerufen am 17.05.2024.