mit Recht eine theatralische nennen, und in ihr ist in der That so viel von allen frühern poetischen Gat¬ tungen enthalten, als in der Schauspielkunst von allen andern Künsten aufgenommen ist. Selbst die einzelnen Dichter unter uns versuchen sich in allen Gattungen und Formen der Poesie, weil es Rollen sind, die sie spielen; in der frühern Zeit bildete jeder Dichter nur eine Gattung eigenthümlich aus.
Die poetische Begeisterung der ersten Menschen schien die letzte Blüthe der Schöpfung zu entfalten. Derselbe Naturgeist, der den Bau der Welt gegrün¬ det, spiegelte sich in den Kosmogonien der kindlichen Völker. Die Poesie war noch nicht losgerissen von der Natur, sie belebte die Massen, war noch nicht ausschließliches Eigenthum eines Individuums, sie vertheilte sich in abweichende Ansichten, wie die Men¬ schen in Stämme, aber sie blieb Eigenthum der Ge¬ nerationen, und wie sie keinem Dichter, sondern dem Volk angehörte, stellte sie auch keinen Helden, nichts Einzelnes dar, sondern das Weltganze. Alle ihre Formen waren architektonisch. Mit dem Heldenthum riß das Individuum von der Masse sich los und die Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom cyclopischen Bau und die Geschichte, die Poesie und bildende Kunst entfaltete die höchste Blüthe dieses Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier war die Dichtkunst eng an die Gegenwart und ihren herrschenden Charakter gebunden, und was wir clas¬ sisch an ihr nennen, war die strenge Consequenz des
mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬ tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus.
Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten. Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬ det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬ ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬ nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬ ſiſch an ihr nennen, war die ſtrenge Conſequenz des
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0069"n="59"/>
mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt<lb/>
in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬<lb/>
tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von<lb/>
allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die<lb/>
einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen<lb/>
Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen<lb/>ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder<lb/>
Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus.</p><lb/><p>Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen<lb/>ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten.<lb/>
Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬<lb/>
det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen<lb/>
Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von<lb/>
der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht<lb/>
ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie<lb/>
vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬<lb/>ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬<lb/>
nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem<lb/>
Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts<lb/>
Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre<lb/>
Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum<lb/>
riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die<lb/>
Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom<lb/>
cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und<lb/>
bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes<lb/>
Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier<lb/>
war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren<lb/>
herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬<lb/>ſiſch an ihr nennen, war die ſtrenge Conſequenz des<lb/></p></div></body></text></TEI>
[59/0069]
mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt
in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬
tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von
allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die
einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen
Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen
ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder
Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus.
Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen
ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten.
Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬
det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen
Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von
der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht
ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie
vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬
ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬
nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem
Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts
Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre
Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum
riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die
Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom
cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und
bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes
Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier
war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren
herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬
ſiſch an ihr nennen, war die ſtrenge Conſequenz des
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/69>, abgerufen am 30.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.