Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn Shakespeare's Gebilde in noch feinerem Li¬
lienschmelz hingezaubert scheinen, so behaupten doch
Schiller's Jungfrauen den Vorzug jener Seele in
der Lilie, des kraftvollen, lebendigen Duftes, und
hierin stehen sie den Dichtungen des Sophokles nä¬
her. Sie sind nicht weich, wie die Heiligen des Carlo
Dolce oder Correggio, sie tragen ein heiliges Feuer
der Kraft in sich, wie die Madonnen des Raphael.
Sie rühren uns nicht allein, sie begeistern uns.

Die heilige Unschuld der Jungfrau tritt aber
am herrlichsten hervor, wenn sie zur Streiterin Got¬
tes ausersehn wird. Es ist das tiefe Geheimniß des
Christenthums und der christlichen Poesie, daß das
Heil der Welt von einer reinen Jungfrau ausgeht,
die höchste Kraft von der reinsten Unschuld. In die¬
sem Sinne hat Schiller seine Jungfrau von Orleans
gedichtet, und sie ist die vollendetste Erscheinung je¬
nes kriegerischen Engels, der den Helm trägt und
die Fahne des Himmels.

Wieder in andrer Weise hat Schiller diese Un¬
schuld mit jeder herrlichen Entfaltung echter Männ¬
lichkeit zu paaren gewußt. Hier ragen vor allen
drei heilige Heldengestalten hervor, jener kriegerische
Jüngling Max Piccolomini, rein, unverdorben unter
allen Lastern des Lagers und des Hauses; Marquis
Posa, dessen Geist mit jeder intellektuellen Bildung
ausgerüstet, ein reiner Tempel der Unschuld geblie¬
ben; endlich jener kräftige, schlichte Sohn der Berge,

Wenn Shakeſpeare's Gebilde in noch feinerem Li¬
lienſchmelz hingezaubert ſcheinen, ſo behaupten doch
Schiller's Jungfrauen den Vorzug jener Seele in
der Lilie, des kraftvollen, lebendigen Duftes, und
hierin ſtehen ſie den Dichtungen des Sophokles naͤ¬
her. Sie ſind nicht weich, wie die Heiligen des Carlo
Dolce oder Correggio, ſie tragen ein heiliges Feuer
der Kraft in ſich, wie die Madonnen des Raphael.
Sie ruͤhren uns nicht allein, ſie begeiſtern uns.

Die heilige Unſchuld der Jungfrau tritt aber
am herrlichſten hervor, wenn ſie zur Streiterin Got¬
tes auserſehn wird. Es iſt das tiefe Geheimniß des
Chriſtenthums und der chriſtlichen Poeſie, daß das
Heil der Welt von einer reinen Jungfrau ausgeht,
die hoͤchſte Kraft von der reinſten Unſchuld. In die¬
ſem Sinne hat Schiller ſeine Jungfrau von Orleans
gedichtet, und ſie iſt die vollendetſte Erſcheinung je¬
nes kriegeriſchen Engels, der den Helm traͤgt und
die Fahne des Himmels.

Wieder in andrer Weiſe hat Schiller dieſe Un¬
ſchuld mit jeder herrlichen Entfaltung echter Maͤnn¬
lichkeit zu paaren gewußt. Hier ragen vor allen
drei heilige Heldengeſtalten hervor, jener kriegeriſche
Juͤngling Max Piccolomini, rein, unverdorben unter
allen Laſtern des Lagers und des Hauſes; Marquis
Poſa, deſſen Geiſt mit jeder intellektuellen Bildung
ausgeruͤſtet, ein reiner Tempel der Unſchuld geblie¬
ben; endlich jener kraͤftige, ſchlichte Sohn der Berge,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0134" n="124"/>
        <p>Wenn Shake&#x017F;peare's Gebilde in noch feinerem Li¬<lb/>
lien&#x017F;chmelz hingezaubert &#x017F;cheinen, &#x017F;o behaupten doch<lb/>
Schiller's Jungfrauen den Vorzug jener Seele in<lb/>
der Lilie, des kraftvollen, lebendigen Duftes, und<lb/>
hierin &#x017F;tehen &#x017F;ie den Dichtungen des Sophokles na&#x0364;¬<lb/>
her. Sie &#x017F;ind nicht weich, wie die Heiligen des Carlo<lb/>
Dolce oder Correggio, &#x017F;ie tragen ein heiliges Feuer<lb/>
der Kraft in &#x017F;ich, wie die Madonnen des Raphael.<lb/>
Sie ru&#x0364;hren uns nicht allein, &#x017F;ie begei&#x017F;tern uns.</p><lb/>
        <p>Die heilige Un&#x017F;chuld der Jungfrau tritt aber<lb/>
am herrlich&#x017F;ten hervor, wenn &#x017F;ie zur Streiterin Got¬<lb/>
tes auser&#x017F;ehn wird. Es i&#x017F;t das tiefe Geheimniß des<lb/>
Chri&#x017F;tenthums und der chri&#x017F;tlichen Poe&#x017F;ie, daß das<lb/>
Heil der Welt von einer reinen Jungfrau ausgeht,<lb/>
die ho&#x0364;ch&#x017F;te Kraft von der rein&#x017F;ten Un&#x017F;chuld. In die¬<lb/>
&#x017F;em Sinne hat Schiller &#x017F;eine Jungfrau von Orleans<lb/>
gedichtet, und &#x017F;ie i&#x017F;t die vollendet&#x017F;te Er&#x017F;cheinung je¬<lb/>
nes kriegeri&#x017F;chen Engels, der den Helm tra&#x0364;gt und<lb/>
die Fahne des Himmels.</p><lb/>
        <p>Wieder in andrer Wei&#x017F;e hat Schiller die&#x017F;e Un¬<lb/>
&#x017F;chuld mit jeder herrlichen Entfaltung echter Ma&#x0364;nn¬<lb/>
lichkeit zu paaren gewußt. Hier ragen vor allen<lb/>
drei heilige Heldenge&#x017F;talten hervor, jener kriegeri&#x017F;che<lb/>
Ju&#x0364;ngling Max Piccolomini, rein, unverdorben unter<lb/>
allen La&#x017F;tern des Lagers und des Hau&#x017F;es; Marquis<lb/>
Po&#x017F;a, de&#x017F;&#x017F;en Gei&#x017F;t mit jeder intellektuellen Bildung<lb/>
ausgeru&#x0364;&#x017F;tet, ein reiner Tempel der Un&#x017F;chuld geblie¬<lb/>
ben; endlich jener kra&#x0364;ftige, &#x017F;chlichte Sohn der Berge,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0134] Wenn Shakeſpeare's Gebilde in noch feinerem Li¬ lienſchmelz hingezaubert ſcheinen, ſo behaupten doch Schiller's Jungfrauen den Vorzug jener Seele in der Lilie, des kraftvollen, lebendigen Duftes, und hierin ſtehen ſie den Dichtungen des Sophokles naͤ¬ her. Sie ſind nicht weich, wie die Heiligen des Carlo Dolce oder Correggio, ſie tragen ein heiliges Feuer der Kraft in ſich, wie die Madonnen des Raphael. Sie ruͤhren uns nicht allein, ſie begeiſtern uns. Die heilige Unſchuld der Jungfrau tritt aber am herrlichſten hervor, wenn ſie zur Streiterin Got¬ tes auserſehn wird. Es iſt das tiefe Geheimniß des Chriſtenthums und der chriſtlichen Poeſie, daß das Heil der Welt von einer reinen Jungfrau ausgeht, die hoͤchſte Kraft von der reinſten Unſchuld. In die¬ ſem Sinne hat Schiller ſeine Jungfrau von Orleans gedichtet, und ſie iſt die vollendetſte Erſcheinung je¬ nes kriegeriſchen Engels, der den Helm traͤgt und die Fahne des Himmels. Wieder in andrer Weiſe hat Schiller dieſe Un¬ ſchuld mit jeder herrlichen Entfaltung echter Maͤnn¬ lichkeit zu paaren gewußt. Hier ragen vor allen drei heilige Heldengeſtalten hervor, jener kriegeriſche Juͤngling Max Piccolomini, rein, unverdorben unter allen Laſtern des Lagers und des Hauſes; Marquis Poſa, deſſen Geiſt mit jeder intellektuellen Bildung ausgeruͤſtet, ein reiner Tempel der Unſchuld geblie¬ ben; endlich jener kraͤftige, ſchlichte Sohn der Berge,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/134
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/134>, abgerufen am 24.11.2024.