Was die in neuerer Zeit so häufig gewordenen durchgreifenden Staatsverbesserungen und Reorgani¬ sationen in ihrer Gewaltthätigkeit einigermaßen hemmt, gewährt doch keinen sonderlichen Trost. Dies ist nämlich die an sich ehrwürdige Achtung vor dem Al¬ ten, die aber in dem Zustande, wohin uns die Zeit einmal unaufhaltsam fortgerissen hat, niemals mehr zur Consequenz des alten Systems zurückführen kann, und also der Consequenz des neuen nur hinderlich ist. Zwischen beide stellt sich ein System von Flick¬ systemen, es wird beständig eingerissen und wieder angebaut, aus allen Zeitaltern und für alle Stände haben sich Institutionen erhalten, und wieder an je¬ dem Orte besondre, unzählige neue sind dem ange¬ klebt worden, und alle verhalten sich zu den einfa¬ chen, die man haben könnte, wie eine Trödlerbude voll alter Kleider zu einem reinlichen Anzug. Die Staatspraktiker müssen nicht nur Theoretiker seyn, sondern auch Historiker und Philologen, und die Ge¬ lehrsamkeit steht nicht sowohl unter dem Schutz des Staates, als der Staat unter dem Schutz der Ge¬ lehrsamkeit.
Was auf der andern Seite die Ausschweifun¬ gen der Weltverbesserer hemmt, ist wohl eben so we¬ nig tröstlich. Dies ist die Censur; man kann in der That nicht an die Mängel unsrer politischen Litera¬ tur denken, ohne daß uns sogleich die großen Lücken einfallen, die Censurlücken, welche von allen den Werken erfüllt seyn könnten, die eben des Preßzwangs
Was die in neuerer Zeit ſo haͤufig gewordenen durchgreifenden Staatsverbeſſerungen und Reorgani¬ ſationen in ihrer Gewaltthaͤtigkeit einigermaßen hemmt, gewaͤhrt doch keinen ſonderlichen Troſt. Dies iſt naͤmlich die an ſich ehrwuͤrdige Achtung vor dem Al¬ ten, die aber in dem Zuſtande, wohin uns die Zeit einmal unaufhaltſam fortgeriſſen hat, niemals mehr zur Conſequenz des alten Syſtems zuruͤckfuͤhren kann, und alſo der Conſequenz des neuen nur hinderlich iſt. Zwiſchen beide ſtellt ſich ein Syſtem von Flick¬ ſyſtemen, es wird beſtaͤndig eingeriſſen und wieder angebaut, aus allen Zeitaltern und fuͤr alle Staͤnde haben ſich Inſtitutionen erhalten, und wieder an je¬ dem Orte beſondre, unzaͤhlige neue ſind dem ange¬ klebt worden, und alle verhalten ſich zu den einfa¬ chen, die man haben koͤnnte, wie eine Troͤdlerbude voll alter Kleider zu einem reinlichen Anzug. Die Staatspraktiker muͤſſen nicht nur Theoretiker ſeyn, ſondern auch Hiſtoriker und Philologen, und die Ge¬ lehrſamkeit ſteht nicht ſowohl unter dem Schutz des Staates, als der Staat unter dem Schutz der Ge¬ lehrſamkeit.
Was auf der andern Seite die Ausſchweifun¬ gen der Weltverbeſſerer hemmt, iſt wohl eben ſo we¬ nig troͤſtlich. Dies iſt die Cenſur; man kann in der That nicht an die Maͤngel unſrer politiſchen Litera¬ tur denken, ohne daß uns ſogleich die großen Luͤcken einfallen, die Cenſurluͤcken, welche von allen den Werken erfuͤllt ſeyn koͤnnten, die eben des Preßzwangs
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Was die in neuerer Zeit ſo haͤufig gewordenen
durchgreifenden Staatsverbeſſerungen und Reorgani¬
ſationen in ihrer Gewaltthaͤtigkeit einigermaßen hemmt,
gewaͤhrt doch keinen ſonderlichen Troſt. Dies iſt
naͤmlich die an ſich ehrwuͤrdige Achtung vor dem Al¬
ten, die aber in dem Zuſtande, wohin uns die Zeit
einmal unaufhaltſam fortgeriſſen hat, niemals mehr
zur Conſequenz des alten Syſtems zuruͤckfuͤhren kann,
und alſo der Conſequenz des neuen nur hinderlich
iſt. Zwiſchen beide ſtellt ſich ein Syſtem von Flick¬
ſyſtemen, es wird beſtaͤndig eingeriſſen und wieder
angebaut, aus allen Zeitaltern und fuͤr alle Staͤnde
haben ſich Inſtitutionen erhalten, und wieder an je¬
dem Orte beſondre, unzaͤhlige neue ſind dem ange¬
klebt worden, und alle verhalten ſich zu den einfa¬
chen, die man haben koͤnnte, wie eine Troͤdlerbude
voll alter Kleider zu einem reinlichen Anzug. Die
Staatspraktiker muͤſſen nicht nur Theoretiker ſeyn,
ſondern auch Hiſtoriker und Philologen, und die Ge¬
lehrſamkeit ſteht nicht ſowohl unter dem Schutz des
Staates, als der Staat unter dem Schutz der Ge¬
lehrſamkeit.
Was auf der andern Seite die Ausſchweifun¬
gen der Weltverbeſſerer hemmt, iſt wohl eben ſo we¬
nig troͤſtlich. Dies iſt die Cenſur; man kann in der
That nicht an die Maͤngel unſrer politiſchen Litera¬
tur denken, ohne daß uns ſogleich die großen Luͤcken
einfallen, die Cenſurluͤcken, welche von allen den
Werken erfuͤllt ſeyn koͤnnten, die eben des Preßzwangs
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/230>, abgerufen am 16.02.2025.
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