Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Mensch Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬ freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Menſch Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0226" n="216"/> freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Menſch<lb/> in einer ſchoͤnen Wirklichkeit thaͤtig iſt. Auch unſre<lb/> philoſophiſchen Syſteme erzeugen mannigfaltige An¬<lb/> ſichten vom geſelligen und politiſchen Leben. Die Theo¬<lb/> rien verhalten ſich aber zum Leben ſelbſt etwa nur<lb/> wie die Poeſie. Man traͤumt ſich in ein politiſches<lb/> Eldorado hinein und wacht ſo nuͤchtern auf, wie zu¬<lb/> vor. Da den Deutſchen die Tribune fehlt, ſo ſollte<lb/> man erwarten, ſie wuͤrden ihre ganze Kraft deſto<lb/> wirkſamer in der Literatur geltend machen. Es iſt<lb/> aber umgekehrt. Eine gute politiſche Literatur geht<lb/> immer erſt aus der Schule der politiſchen Beredſam¬<lb/> keit hervor.</p><lb/> <p>Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬<lb/> tereſſe der Nation in Anſpruch, ſo daß ſelbſt die<lb/> großen Umwaͤlzungen der Reformation eher dazu dien¬<lb/> ten, den Sinn fuͤr Politik nicht bei den Hoͤfen, aber<lb/> beim Volk einzuſchlaͤfern, als zu erwecken. Spaͤter<lb/> trat eine behagliche Gewohnheit ein, bei der faſt alle<lb/> politiſche Fragen gaͤnzlich in Vergeſſenheit geriethen.<lb/> Der Wohlſtand nahm nicht ſo gewaltig zu, daß die<lb/> uͤberfluͤßige Kraft große Thaten und Inſtitutionen<lb/> haͤtte hervorbringen koͤnnen; er ſank aber auch nie<lb/> ſo gaͤnzlich, daß die Verzweiflung zu Umwaͤlzungen<lb/> gefuͤhrt haͤtte. Die Fuͤrſtenhaͤuſer genoſſen faſt ohne<lb/> Ausnahme das kindliche Vertrauen der Unterthanen,<lb/> beſonders ſeit ihre wechſelſeitigen Intereſſen in den<lb/> Religionskaͤmpfen ſo eng verſchlungen worden. Die<lb/> Maſſe hatte zu eſſen, und ausgezeichnete Geiſter fan¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [216/0226]
freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Menſch
in einer ſchoͤnen Wirklichkeit thaͤtig iſt. Auch unſre
philoſophiſchen Syſteme erzeugen mannigfaltige An¬
ſichten vom geſelligen und politiſchen Leben. Die Theo¬
rien verhalten ſich aber zum Leben ſelbſt etwa nur
wie die Poeſie. Man traͤumt ſich in ein politiſches
Eldorado hinein und wacht ſo nuͤchtern auf, wie zu¬
vor. Da den Deutſchen die Tribune fehlt, ſo ſollte
man erwarten, ſie wuͤrden ihre ganze Kraft deſto
wirkſamer in der Literatur geltend machen. Es iſt
aber umgekehrt. Eine gute politiſche Literatur geht
immer erſt aus der Schule der politiſchen Beredſam¬
keit hervor.
Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬
tereſſe der Nation in Anſpruch, ſo daß ſelbſt die
großen Umwaͤlzungen der Reformation eher dazu dien¬
ten, den Sinn fuͤr Politik nicht bei den Hoͤfen, aber
beim Volk einzuſchlaͤfern, als zu erwecken. Spaͤter
trat eine behagliche Gewohnheit ein, bei der faſt alle
politiſche Fragen gaͤnzlich in Vergeſſenheit geriethen.
Der Wohlſtand nahm nicht ſo gewaltig zu, daß die
uͤberfluͤßige Kraft große Thaten und Inſtitutionen
haͤtte hervorbringen koͤnnen; er ſank aber auch nie
ſo gaͤnzlich, daß die Verzweiflung zu Umwaͤlzungen
gefuͤhrt haͤtte. Die Fuͤrſtenhaͤuſer genoſſen faſt ohne
Ausnahme das kindliche Vertrauen der Unterthanen,
beſonders ſeit ihre wechſelſeitigen Intereſſen in den
Religionskaͤmpfen ſo eng verſchlungen worden. Die
Maſſe hatte zu eſſen, und ausgezeichnete Geiſter fan¬
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