durchwandern. Wir werden manchen deutschen Pro¬ fessor darin finden, der in bleiernem Rock mit rück¬ wärts gedrehtem Halse nach dem grünen Leben zu¬ rückblickt, und nimmer aus der grauen Theorie her¬ auskann; wir werden den Sisyphus den Stein der Weisen bergan schleppen und den Tantalus nach den Äpfeln am Baum des Erkenntnisses hungern sehn, wir werden alle finden, die in den Worten suchten, was allein das Leben gewährt.
Von diesem freien Standpunkte aus wollen wir die Literatur zunächst in ihrer Wechselwirkung mit dem Leben, sodann als ein Kunstwerk betrachten. Sie ist ein Produkt des Lebens, das wieder auf das¬ selbe zurückwirkt. Vom Leben selbst geschliffen wird sie ein Spiegel desselben, von ihm als Arznei und als Gift gebraucht, heilt oder tödtet sie es. In dem unermeßlichen Umfang ihrer todten Wörter aber ist sie ein einziges und zwar das reichste Kunstwerk nächst dem Leben selbst. Wenn es schwierig ist, in diesem Reichthum sich zurecht zu finden, so ist es doch noch schwieriger, sich von ihm nicht völlig verblenden zu lassen. Viele sehen in der Literatur zugleich den rein¬ sten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der umfassendste ist; viele betrachten sie als das höchste Produkt des Lebens, nur weil es die längste Dauer verspricht. Sie stellen die Ruinen, die von der Weis¬ heit aller übrig sind, über das wohnliche Haus uns¬ rer eignen Weisheit, und das Bild aller Thaten über die eigne That. Bald sind sie zu träg, und
durchwandern. Wir werden manchen deutſchen Pro¬ feſſor darin finden, der in bleiernem Rock mit ruͤck¬ waͤrts gedrehtem Halſe nach dem gruͤnen Leben zu¬ ruͤckblickt, und nimmer aus der grauen Theorie her¬ auskann; wir werden den Siſyphus den Stein der Weiſen bergan ſchleppen und den Tantalus nach den Äpfeln am Baum des Erkenntniſſes hungern ſehn, wir werden alle finden, die in den Worten ſuchten, was allein das Leben gewaͤhrt.
Von dieſem freien Standpunkte aus wollen wir die Literatur zunaͤchſt in ihrer Wechſelwirkung mit dem Leben, ſodann als ein Kunſtwerk betrachten. Sie iſt ein Produkt des Lebens, das wieder auf daſ¬ ſelbe zuruͤckwirkt. Vom Leben ſelbſt geſchliffen wird ſie ein Spiegel deſſelben, von ihm als Arznei und als Gift gebraucht, heilt oder toͤdtet ſie es. In dem unermeßlichen Umfang ihrer todten Woͤrter aber iſt ſie ein einziges und zwar das reichſte Kunſtwerk naͤchſt dem Leben ſelbſt. Wenn es ſchwierig iſt, in dieſem Reichthum ſich zurecht zu finden, ſo iſt es doch noch ſchwieriger, ſich von ihm nicht voͤllig verblenden zu laſſen. Viele ſehen in der Literatur zugleich den rein¬ ſten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der umfaſſendſte iſt; viele betrachten ſie als das hoͤchſte Produkt des Lebens, nur weil es die laͤngſte Dauer verſpricht. Sie ſtellen die Ruinen, die von der Weis¬ heit aller uͤbrig ſind, uͤber das wohnliche Haus unſ¬ rer eignen Weisheit, und das Bild aller Thaten uͤber die eigne That. Bald ſind ſie zu traͤg, und
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durchwandern. Wir werden manchen deutſchen Pro¬
feſſor darin finden, der in bleiernem Rock mit ruͤck¬
waͤrts gedrehtem Halſe nach dem gruͤnen Leben zu¬
ruͤckblickt, und nimmer aus der grauen Theorie her¬
auskann; wir werden den Siſyphus den Stein der
Weiſen bergan ſchleppen und den Tantalus nach den
Äpfeln am Baum des Erkenntniſſes hungern ſehn,
wir werden alle finden, die in den Worten ſuchten,
was allein das Leben gewaͤhrt.
Von dieſem freien Standpunkte aus wollen wir
die Literatur zunaͤchſt in ihrer Wechſelwirkung mit
dem Leben, ſodann als ein Kunſtwerk betrachten.
Sie iſt ein Produkt des Lebens, das wieder auf daſ¬
ſelbe zuruͤckwirkt. Vom Leben ſelbſt geſchliffen wird
ſie ein Spiegel deſſelben, von ihm als Arznei und
als Gift gebraucht, heilt oder toͤdtet ſie es. In dem
unermeßlichen Umfang ihrer todten Woͤrter aber iſt
ſie ein einziges und zwar das reichſte Kunſtwerk naͤchſt
dem Leben ſelbſt. Wenn es ſchwierig iſt, in dieſem
Reichthum ſich zurecht zu finden, ſo iſt es doch noch
ſchwieriger, ſich von ihm nicht voͤllig verblenden zu
laſſen. Viele ſehen in der Literatur zugleich den rein¬
ſten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der
umfaſſendſte iſt; viele betrachten ſie als das hoͤchſte
Produkt des Lebens, nur weil es die laͤngſte Dauer
verſpricht. Sie ſtellen die Ruinen, die von der Weis¬
heit aller uͤbrig ſind, uͤber das wohnliche Haus unſ¬
rer eignen Weisheit, und das Bild aller Thaten
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/22>, abgerufen am 16.07.2024.
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