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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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dern. Es sucht in einer Physik des Geistes und der
Geschichte jedem geistigen Wesen, sey es ein Charak¬
ter, oder eine Meinung, oder eine Begebenheit, das¬
selbe Recht zu sichern, wie in der gemeinen Physik
jedem materiellen Wesen. Es betrachtet die histori¬
schen Perioden wie die Jahreszeiten, die Nationali¬
täten wie die Zonen, die Temperamente wie die Ele¬
mente, die Charaktere wie die Kreaturen, die Äuße¬
rungen derselben in Gesinnungen und Handlungen
als so nothwendig in der Natur gegründet, und als
so verschieden wie die Instinkte. Nach diesem Sy¬
stem herrscht ein Wachsthum und ein geheimnißvoller
Zug, eine Mannigfaltigkeit und eine Ordnung in der
geistigen Welt wie in der Natur. Diese neue epische
Ansicht empfiehlt sich allen denen, die in einem wei¬
teren Umkreis das Leben überblickt haben. In ihr
allein findet der endlose Meinungsstreit seine Beru¬
higung, und jeder Widerspruch die einfachste natür¬
lichste Lösung. Ohne mit Schelling und seiner Schule
vertraut zu seyn, sind viele einsichtsvolle Männer
durch eine lange Erfahrung von selbst auf diesen
Standpunkt der Betrachtung geführt worden. Nach
einer weiten Lebensreise haben sie auf alles zurück¬
geblickt, was sie gesehn und übersehn, gestrebt und
verlassen, gefunden und verloren, und von selbst hat
das wilde Drama, in welchem sie als handelnde Per¬
sonen einseitige Zwecke blind verfolgt, sich ihnen in
ein ruhiges Epos verwandelt, und sie sind als Zu¬
schauer dem Dichter zur Seite niedergesessen, um die

dern. Es ſucht in einer Phyſik des Geiſtes und der
Geſchichte jedem geiſtigen Weſen, ſey es ein Charak¬
ter, oder eine Meinung, oder eine Begebenheit, daſ¬
ſelbe Recht zu ſichern, wie in der gemeinen Phyſik
jedem materiellen Weſen. Es betrachtet die hiſtori¬
ſchen Perioden wie die Jahreszeiten, die Nationali¬
taͤten wie die Zonen, die Temperamente wie die Ele¬
mente, die Charaktere wie die Kreaturen, die Äuße¬
rungen derſelben in Geſinnungen und Handlungen
als ſo nothwendig in der Natur gegruͤndet, und als
ſo verſchieden wie die Inſtinkte. Nach dieſem Sy¬
ſtem herrſcht ein Wachsthum und ein geheimnißvoller
Zug, eine Mannigfaltigkeit und eine Ordnung in der
geiſtigen Welt wie in der Natur. Dieſe neue epiſche
Anſicht empfiehlt ſich allen denen, die in einem wei¬
teren Umkreis das Leben uͤberblickt haben. In ihr
allein findet der endloſe Meinungsſtreit ſeine Beru¬
higung, und jeder Widerſpruch die einfachſte natuͤr¬
lichſte Loͤſung. Ohne mit Schelling und ſeiner Schule
vertraut zu ſeyn, ſind viele einſichtsvolle Maͤnner
durch eine lange Erfahrung von ſelbſt auf dieſen
Standpunkt der Betrachtung gefuͤhrt worden. Nach
einer weiten Lebensreiſe haben ſie auf alles zuruͤck¬
geblickt, was ſie geſehn und uͤberſehn, geſtrebt und
verlaſſen, gefunden und verloren, und von ſelbſt hat
das wilde Drama, in welchem ſie als handelnde Per¬
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[183[188]/0198] dern. Es ſucht in einer Phyſik des Geiſtes und der Geſchichte jedem geiſtigen Weſen, ſey es ein Charak¬ ter, oder eine Meinung, oder eine Begebenheit, daſ¬ ſelbe Recht zu ſichern, wie in der gemeinen Phyſik jedem materiellen Weſen. Es betrachtet die hiſtori¬ ſchen Perioden wie die Jahreszeiten, die Nationali¬ taͤten wie die Zonen, die Temperamente wie die Ele¬ mente, die Charaktere wie die Kreaturen, die Äuße¬ rungen derſelben in Geſinnungen und Handlungen als ſo nothwendig in der Natur gegruͤndet, und als ſo verſchieden wie die Inſtinkte. Nach dieſem Sy¬ ſtem herrſcht ein Wachsthum und ein geheimnißvoller Zug, eine Mannigfaltigkeit und eine Ordnung in der geiſtigen Welt wie in der Natur. Dieſe neue epiſche Anſicht empfiehlt ſich allen denen, die in einem wei¬ teren Umkreis das Leben uͤberblickt haben. In ihr allein findet der endloſe Meinungsſtreit ſeine Beru¬ higung, und jeder Widerſpruch die einfachſte natuͤr¬ lichſte Loͤſung. Ohne mit Schelling und ſeiner Schule vertraut zu ſeyn, ſind viele einſichtsvolle Maͤnner durch eine lange Erfahrung von ſelbſt auf dieſen Standpunkt der Betrachtung gefuͤhrt worden. Nach einer weiten Lebensreiſe haben ſie auf alles zuruͤck¬ geblickt, was ſie geſehn und uͤberſehn, geſtrebt und verlaſſen, gefunden und verloren, und von ſelbſt hat das wilde Drama, in welchem ſie als handelnde Per¬ ſonen einſeitige Zwecke blind verfolgt, ſich ihnen in ein ruhiges Epos verwandelt, und ſie ſind als Zu¬ ſchauer dem Dichter zur Seite niedergeſeſſen, um die

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 183[188]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/198>, abgerufen am 28.04.2024.