unter dem Namen einer büßenden Magdalena nur die sündige spielen wollen. Alle diese Mißbräuche sind indeß nicht dem Pietismus an sich, sondern der Stel¬ lung zuzuschreiben, in welcher er sich jetzt noch be¬ findet. Der Weltgeist, dem der Pietismus noch erliegt, treibt auf solche Weise Hohn und Spott mit ihm.
Eine große Zahl von Pietisten sucht diesem Welt¬ geist dadurch zu entfliehn, daß sie sich von allem Ir¬ dischen so weit als möglich zurückziehn und nicht einmal mehr denken wollen. Dies ist der Quietismus im Pietismus, sein Extrem, die einseitigste Verir¬ rung, deren er fähig ist. Zu diesem Quietismus sind die niedern Klassen am geneigtesten, weil der Stolz und Hochmuth der Unwissenheit denen am leichtesten wird, die wirklich unwissend sind. Auch die ganz ab¬ geschwächten Vornehmen suchen den Quietismus, um selbst in der äußersten Impotenz noch eine Wollust zu finden.
Alle diese Verirrungen hindern indeß nicht, daß der Pietismus sich immer weiter verbreitet und in der Achtung selbst der Gelehrten immer mehr steigt. Als Religion des Gemüthes ist er ein unentbehrliches Bedürfniß aller derer geworden, denen der Wort- und Denkglauben der Protestanten nicht mehr genü¬ gen konnte. Er hat sich ihnen nicht aufgedrängt, sie haben ihn selbst gesucht. Alles wird eher durch Zwang, Gewohnheit und Überredung begründet und erhalten, als der Pietismus. Wer sich zu ihm wendet, sieht
unter dem Namen einer buͤßenden Magdalena nur die ſuͤndige ſpielen wollen. Alle dieſe Mißbraͤuche ſind indeß nicht dem Pietismus an ſich, ſondern der Stel¬ lung zuzuſchreiben, in welcher er ſich jetzt noch be¬ findet. Der Weltgeiſt‚ dem der Pietismus noch erliegt, treibt auf ſolche Weiſe Hohn und Spott mit ihm.
Eine große Zahl von Pietiſten ſucht dieſem Welt¬ geiſt dadurch zu entfliehn, daß ſie ſich von allem Ir¬ diſchen ſo weit als moͤglich zuruͤckziehn und nicht einmal mehr denken wollen. Dies iſt der Quietismus im Pietismus, ſein Extrem, die einſeitigſte Verir¬ rung‚ deren er faͤhig iſt. Zu dieſem Quietismus ſind die niedern Klaſſen am geneigteſten, weil der Stolz und Hochmuth der Unwiſſenheit denen am leichteſten wird, die wirklich unwiſſend ſind. Auch die ganz ab¬ geſchwaͤchten Vornehmen ſuchen den Quietismus, um ſelbſt in der aͤußerſten Impotenz noch eine Wolluſt zu finden.
Alle dieſe Verirrungen hindern indeß nicht, daß der Pietismus ſich immer weiter verbreitet und in der Achtung ſelbſt der Gelehrten immer mehr ſteigt. Als Religion des Gemuͤthes iſt er ein unentbehrliches Beduͤrfniß aller derer geworden, denen der Wort- und Denkglauben der Proteſtanten nicht mehr genuͤ¬ gen konnte. Er hat ſich ihnen nicht aufgedraͤngt, ſie haben ihn ſelbſt geſucht. Alles wird eher durch Zwang, Gewohnheit und Überredung begruͤndet und erhalten, als der Pietismus. Wer ſich zu ihm wendet, ſieht
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unter dem Namen einer buͤßenden Magdalena nur die
ſuͤndige ſpielen wollen. Alle dieſe Mißbraͤuche ſind
indeß nicht dem Pietismus an ſich, ſondern der Stel¬
lung zuzuſchreiben, in welcher er ſich jetzt noch be¬
findet. Der Weltgeiſt‚ dem der Pietismus noch erliegt,
treibt auf ſolche Weiſe Hohn und Spott mit ihm.
Eine große Zahl von Pietiſten ſucht dieſem Welt¬
geiſt dadurch zu entfliehn, daß ſie ſich von allem Ir¬
diſchen ſo weit als moͤglich zuruͤckziehn und nicht
einmal mehr denken wollen. Dies iſt der Quietismus
im Pietismus, ſein Extrem, die einſeitigſte Verir¬
rung‚ deren er faͤhig iſt. Zu dieſem Quietismus ſind
die niedern Klaſſen am geneigteſten, weil der Stolz
und Hochmuth der Unwiſſenheit denen am leichteſten
wird, die wirklich unwiſſend ſind. Auch die ganz ab¬
geſchwaͤchten Vornehmen ſuchen den Quietismus, um
ſelbſt in der aͤußerſten Impotenz noch eine Wolluſt
zu finden.
Alle dieſe Verirrungen hindern indeß nicht, daß
der Pietismus ſich immer weiter verbreitet und in
der Achtung ſelbſt der Gelehrten immer mehr ſteigt.
Als Religion des Gemuͤthes iſt er ein unentbehrliches
Beduͤrfniß aller derer geworden, denen der Wort-
und Denkglauben der Proteſtanten nicht mehr genuͤ¬
gen konnte. Er hat ſich ihnen nicht aufgedraͤngt, ſie
haben ihn ſelbſt geſucht. Alles wird eher durch Zwang,
Gewohnheit und Überredung begruͤndet und erhalten,
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/162>, abgerufen am 17.07.2024.
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