Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Kritiker auf der einen, die Pietisten auf
der andern Seite sind wirklich fortgeschritten. Indem
sie aber eben deßhalb immer, sey es Idee oder nur
Begriff und Gefühl von dem Einfluß historischer For¬
men unabhängig zu machen gesucht, und die Religion
gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬
bens gegen die einmal als gültig anerkannten Nor¬
men desselben vertheidigt haben, sind sie in das son¬
derbare Verhältniß gerathen, gleichsam außerhalb der
Geschichte zu stehn, und die Religion, wie eine Phi¬
losophie, vom Leben der Gesellschaft zu trennen. Sie
eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder sehen
mit Mitleid auf die Bedürfnisse der Schwachen herab,
und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus
den Händen einer unabhängigen Hierarchie befreit,
um sie unter weltliche Ministerien zu stellen, wie al¬
les, was öffentlich ist. Dieser precäre Zustand scheint
unsrer Zeit vollkommen angemessen, indem er die Un¬
gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten
befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit läßt, zu
glauben, was sie wollen. Er ist aber auch nur pre¬
cär, denn er dient nur der Entwicklung. Dieser
müssen wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch
welche wunderbare Wege die Vorsehung den Glauben
führen mag.

Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts, so müssen wir die Ratio¬
nalisten und Pietisten segnen, die dem menschlichen
Geist auch nach diesem schweren Drucke wieder Luft

Dieſe Kritiker auf der einen, die Pietiſten auf
der andern Seite ſind wirklich fortgeſchritten. Indem
ſie aber eben deßhalb immer, ſey es Idee oder nur
Begriff und Gefuͤhl von dem Einfluß hiſtoriſcher For¬
men unabhaͤngig zu machen geſucht, und die Religion
gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬
bens gegen die einmal als guͤltig anerkannten Nor¬
men deſſelben vertheidigt haben, ſind ſie in das ſon¬
derbare Verhaͤltniß gerathen, gleichſam außerhalb der
Geſchichte zu ſtehn, und die Religion, wie eine Phi¬
loſophie, vom Leben der Geſellſchaft zu trennen. Sie
eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder ſehen
mit Mitleid auf die Beduͤrfniſſe der Schwachen herab,
und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus
den Haͤnden einer unabhaͤngigen Hierarchie befreit,
um ſie unter weltliche Miniſterien zu ſtellen, wie al¬
les, was oͤffentlich iſt. Dieſer precaͤre Zuſtand ſcheint
unſrer Zeit vollkommen angemeſſen, indem er die Un¬
gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten
befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit laͤßt, zu
glauben, was ſie wollen. Er iſt aber auch nur pre¬
caͤr, denn er dient nur der Entwicklung. Dieſer
muͤſſen wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch
welche wunderbare Wege die Vorſehung den Glauben
fuͤhren mag.

Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts, ſo muͤſſen wir die Ratio¬
naliſten und Pietiſten ſegnen, die dem menſchlichen
Geiſt auch nach dieſem ſchweren Drucke wieder Luft

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0134" n="124"/>
        <p>Die&#x017F;e Kritiker auf der einen, die Pieti&#x017F;ten auf<lb/>
der andern Seite &#x017F;ind wirklich fortge&#x017F;chritten. Indem<lb/>
&#x017F;ie aber eben deßhalb immer, &#x017F;ey es Idee oder nur<lb/>
Begriff und Gefu&#x0364;hl von dem Einfluß hi&#x017F;tori&#x017F;cher For¬<lb/>
men unabha&#x0364;ngig zu machen ge&#x017F;ucht, und die Religion<lb/>
gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬<lb/>
bens gegen die einmal als gu&#x0364;ltig anerkannten Nor¬<lb/>
men de&#x017F;&#x017F;elben vertheidigt haben, &#x017F;ind &#x017F;ie in das &#x017F;on¬<lb/>
derbare Verha&#x0364;ltniß gerathen, gleich&#x017F;am außerhalb der<lb/>
Ge&#x017F;chichte zu &#x017F;tehn, und die Religion, wie eine Phi¬<lb/>
lo&#x017F;ophie, vom Leben der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu trennen. Sie<lb/>
eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder &#x017F;ehen<lb/>
mit Mitleid auf die Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e der Schwachen herab,<lb/>
und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus<lb/>
den Ha&#x0364;nden einer unabha&#x0364;ngigen Hierarchie befreit,<lb/>
um &#x017F;ie unter weltliche Mini&#x017F;terien zu &#x017F;tellen, wie al¬<lb/>
les, was o&#x0364;ffentlich i&#x017F;t. Die&#x017F;er preca&#x0364;re Zu&#x017F;tand &#x017F;cheint<lb/>
un&#x017F;rer Zeit vollkommen angeme&#x017F;&#x017F;en, indem er die Un¬<lb/>
gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten<lb/>
befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit la&#x0364;ßt, zu<lb/>
glauben, was &#x017F;ie wollen. Er i&#x017F;t aber auch nur pre¬<lb/>
ca&#x0364;r, denn er dient nur der Entwicklung. Die&#x017F;er<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch<lb/>
welche wunderbare Wege die Vor&#x017F;ehung den Glauben<lb/>
fu&#x0364;hren mag.</p><lb/>
        <p>Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang<lb/>
des vorigen Jahrhunderts, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die Ratio¬<lb/>
nali&#x017F;ten und Pieti&#x017F;ten &#x017F;egnen, die dem men&#x017F;chlichen<lb/>
Gei&#x017F;t auch nach die&#x017F;em &#x017F;chweren Drucke wieder Luft<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0134] Dieſe Kritiker auf der einen, die Pietiſten auf der andern Seite ſind wirklich fortgeſchritten. Indem ſie aber eben deßhalb immer, ſey es Idee oder nur Begriff und Gefuͤhl von dem Einfluß hiſtoriſcher For¬ men unabhaͤngig zu machen geſucht, und die Religion gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬ bens gegen die einmal als guͤltig anerkannten Nor¬ men deſſelben vertheidigt haben, ſind ſie in das ſon¬ derbare Verhaͤltniß gerathen, gleichſam außerhalb der Geſchichte zu ſtehn, und die Religion, wie eine Phi¬ loſophie, vom Leben der Geſellſchaft zu trennen. Sie eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder ſehen mit Mitleid auf die Beduͤrfniſſe der Schwachen herab, und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus den Haͤnden einer unabhaͤngigen Hierarchie befreit, um ſie unter weltliche Miniſterien zu ſtellen, wie al¬ les, was oͤffentlich iſt. Dieſer precaͤre Zuſtand ſcheint unſrer Zeit vollkommen angemeſſen, indem er die Un¬ gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit laͤßt, zu glauben, was ſie wollen. Er iſt aber auch nur pre¬ caͤr, denn er dient nur der Entwicklung. Dieſer muͤſſen wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch welche wunderbare Wege die Vorſehung den Glauben fuͤhren mag. Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, ſo muͤſſen wir die Ratio¬ naliſten und Pietiſten ſegnen, die dem menſchlichen Geiſt auch nach dieſem ſchweren Drucke wieder Luft

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/134
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/134>, abgerufen am 27.11.2024.