zuerst an Normalzustände, Normalmenschen und wol¬ len auch dann den unermeßlichen Reichthum verschie¬ dener Entwickelungen nicht beachten, wenn sie dem Normalisiren entschieden in den Weg treten. Selbst die Naturwissenschaft geht von Normalmenschen aus, und beachtet alles, was der Gattung gemeinsam ist, nur nicht, was die Individuen unterscheidet. Wir haben noch keine Theorie der Gerüche in den Pflan¬ zen und noch keine der Temperamente in den Men¬ schen. So geht man in der Politik immer von einem Normalzustand aus und will alle Menschen nach ei¬ nem Maße messen. So will man auch in der Reli¬ gion keine Mannigfaltigkeit dulden, und wie sehr diese allenthalben sich kund gibt, in wie verschiedene Glaubensweisen die Deutschen sich trennen, will doch jeder die seinige zur alleingültigen machen.
Die Frage nach der äußern Kirchenverfas¬ sung ist eigentlich ganz unabhängig von der nach dem innern Lehrbegriff, und es ist beinah schon jeder mögliche Lehrbegriff bei jeder möglichen Verfassung bestanden. Es hat ein katholisches Presbyterium, eine katholische Episcopalkirche ohne Papst gegeben und der Katholicismus ist der weltlichen Macht, hier dem Gesetz, dort dem Monarchen Unterthan worden, wie der Protestantismus. Es hat aber auch ganz artige protestantische Päpste, Bischöfe, Bannbullen und Ke¬ tzerrichter gegeben. Nicht die Art und Weise wie man Gott anbetet, nicht die Religion, sondern die Menschen und irdischen Verhältnisse machen hier die
zuerſt an Normalzuſtaͤnde, Normalmenſchen und wol¬ len auch dann den unermeßlichen Reichthum verſchie¬ dener Entwickelungen nicht beachten, wenn ſie dem Normaliſiren entſchieden in den Weg treten. Selbſt die Naturwiſſenſchaft geht von Normalmenſchen aus, und beachtet alles, was der Gattung gemeinſam iſt, nur nicht, was die Individuen unterſcheidet. Wir haben noch keine Theorie der Geruͤche in den Pflan¬ zen und noch keine der Temperamente in den Men¬ ſchen. So geht man in der Politik immer von einem Normalzuſtand aus und will alle Menſchen nach ei¬ nem Maße meſſen. So will man auch in der Reli¬ gion keine Mannigfaltigkeit dulden, und wie ſehr dieſe allenthalben ſich kund gibt, in wie verſchiedene Glaubensweiſen die Deutſchen ſich trennen, will doch jeder die ſeinige zur alleinguͤltigen machen.
Die Frage nach der aͤußern Kirchenverfaſ¬ ſung iſt eigentlich ganz unabhaͤngig von der nach dem innern Lehrbegriff, und es iſt beinah ſchon jeder moͤgliche Lehrbegriff bei jeder moͤglichen Verfaſſung beſtanden. Es hat ein katholiſches Presbyterium, eine katholiſche Episcopalkirche ohne Papſt gegeben und der Katholicismus iſt der weltlichen Macht, hier dem Geſetz, dort dem Monarchen Unterthan worden, wie der Proteſtantismus. Es hat aber auch ganz artige proteſtantiſche Paͤpſte, Biſchoͤfe, Bannbullen und Ke¬ tzerrichter gegeben. Nicht die Art und Weiſe wie man Gott anbetet, nicht die Religion, ſondern die Menſchen und irdiſchen Verhaͤltniſſe machen hier die
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zuerſt an Normalzuſtaͤnde, Normalmenſchen und wol¬
len auch dann den unermeßlichen Reichthum verſchie¬
dener Entwickelungen nicht beachten, wenn ſie dem
Normaliſiren entſchieden in den Weg treten. Selbſt
die Naturwiſſenſchaft geht von Normalmenſchen aus,
und beachtet alles, was der Gattung gemeinſam iſt,
nur nicht, was die Individuen unterſcheidet. Wir
haben noch keine Theorie der Geruͤche in den Pflan¬
zen und noch keine der Temperamente in den Men¬
ſchen. So geht man in der Politik immer von einem
Normalzuſtand aus und will alle Menſchen nach ei¬
nem Maße meſſen. So will man auch in der Reli¬
gion keine Mannigfaltigkeit dulden, und wie ſehr
dieſe allenthalben ſich kund gibt, in wie verſchiedene
Glaubensweiſen die Deutſchen ſich trennen, will doch
jeder die ſeinige zur alleinguͤltigen machen.
Die Frage nach der aͤußern Kirchenverfaſ¬
ſung iſt eigentlich ganz unabhaͤngig von der nach
dem innern Lehrbegriff, und es iſt beinah ſchon jeder
moͤgliche Lehrbegriff bei jeder moͤglichen Verfaſſung
beſtanden. Es hat ein katholiſches Presbyterium, eine
katholiſche Episcopalkirche ohne Papſt gegeben und
der Katholicismus iſt der weltlichen Macht, hier dem
Geſetz, dort dem Monarchen Unterthan worden, wie
der Proteſtantismus. Es hat aber auch ganz artige
proteſtantiſche Paͤpſte, Biſchoͤfe, Bannbullen und Ke¬
tzerrichter gegeben. Nicht die Art und Weiſe wie
man Gott anbetet, nicht die Religion, ſondern die
Menſchen und irdiſchen Verhaͤltniſſe machen hier die
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/105>, abgerufen am 17.02.2025.
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