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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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Zu den Wahrheiten der zwoten Classe wird,
außer der Vernunft, auch noch Beobachtung
erfordert. Wollen wir wissen, welche Gesetze
der Schöpfer seiner Schöpfung vorrgeschieben,
nach welchen allgemeinen Regeln die Verände-
rungen in derselben vorgehen: so müssen wir
einzelne Fälle erfahren, beobachten, versuchen,
das heißt, zuvörderst die Evidenz der Sinne
brauchen und hernach durch die Vernunft, aus
mehrern besondern Fällen dasjenige herausbrin-
gen, was sie gemein haben. Hier werden wir
zwar manches schon auf Glauben und Ansehen
von andern annehmen müssen. Unsere Lebens-
zeit reicht nicht hin, alles selbst zu erfahren,
und wir müssen in vielen Fällen uns auf glaub-
hafte Nebenmenschen verlassen: die Beobach-
tungen und Versuche, die sie angestellt zu ha-
ben vorgeben, als wahr voraussetzen. Wir
trauen ihnen aber nur, in so weit wir wissen,
und überführt sind, daß die Gegenstände noch
immer vorhanden sind, und die Versuche und
Beobachtungen von uns oder von andern, die
Gelegenheit und Fähigkeit dazu haben, wieder-
holt und geprüft werden können. Ja, wenn

das

Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird,
außer der Vernunft, auch noch Beobachtung
erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze
der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben,
nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde-
rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir
einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen,
das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne
brauchen und hernach durch die Vernunft, aus
mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin-
gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir
zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen
von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens-
zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren,
und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub-
hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach-
tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha-
ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir
trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen,
und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch
immer vorhanden ſind, und die Verſuche und
Beobachtungen von uns oder von andern, die
Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder-
holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn

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[36/0138] Zu den Wahrheiten der zwoten Claſſe wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wiſſen, welche Geſetze der Schoͤpfer ſeiner Schoͤpfung vorrgeſchieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde- rungen in derſelben vorgehen: ſo muͤſſen wir einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, verſuchen, das heißt, zuvoͤrderſt die Evidenz der Sinne brauchen und hernach durch die Vernunft, aus mehrern beſondern Faͤllen dasjenige herausbrin- gen, was ſie gemein haben. Hier werden wir zwar manches ſchon auf Glauben und Anſehen von andern annehmen muͤſſen. Unſere Lebens- zeit reicht nicht hin, alles ſelbſt zu erfahren, und wir muͤſſen in vielen Faͤllen uns auf glaub- hafte Nebenmenſchen verlaſſen: die Beobach- tungen und Verſuche, die ſie angeſtellt zu ha- ben vorgeben, als wahr vorausſetzen. Wir trauen ihnen aber nur, in ſo weit wir wiſſen, und uͤberfuͤhrt ſind, daß die Gegenſtaͤnde noch immer vorhanden ſind, und die Verſuche und Beobachtungen von uns oder von andern, die Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder- holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn das

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/138>, abgerufen am 18.05.2024.