das Herz allzusehr an sinnlichen Lüsten klebt, um der Vernunft Gehör zu geben; wenn es auf dem Punkte ist, die Vernunft selbst mir ins Garn zu locken; so werde es hier vom Schauer der Gottseligkeit ergriffen, vom Feuer der An- dacht entflammt, und lerne Freuden höherer Art kennen, die auch hienieden schon den sinnlichen Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Thür abweisen, der diese Ar- zeney am meisten bedarf; destomehr bedarf, je weniger er dieses Bedürfniß empfindet, und in seinem Irrsinne, sich gesund zu seyn einbildet? Muß nicht vielmehr eure erste Bemühung seyn, ihm diese Empfindung wieder zu geben, und den gleichsam vom kaltem Brande bedroheten Theil seiner Seele ins Leben zurück zu rufen? Statt dessen verweigert ihr ihm alle Hülfe, und lasset den Ohnmächtigen den moralischen Tod dahin sterben, dem ihr ihn vielleicht würdet entrissen haben.
Weit edler und dem Zwecke seiner Schule gemäßer, handelte jener Weltweise zu Athen. Ein Epikurer kam von seinem Gelage, die Sinne
von
das Herz allzuſehr an ſinnlichen Luͤſten klebt, um der Vernunft Gehoͤr zu geben; wenn es auf dem Punkte iſt, die Vernunft ſelbſt mir ins Garn zu locken; ſo werde es hier vom Schauer der Gottſeligkeit ergriffen, vom Feuer der An- dacht entflammt, und lerne Freuden hoͤherer Art kennen, die auch hienieden ſchon den ſinnlichen Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Thuͤr abweiſen, der dieſe Ar- zeney am meiſten bedarf; deſtomehr bedarf, je weniger er dieſes Beduͤrfniß empfindet, und in ſeinem Irrſinne, ſich geſund zu ſeyn einbildet? Muß nicht vielmehr eure erſte Bemuͤhung ſeyn, ihm dieſe Empfindung wieder zu geben, und den gleichſam vom kaltem Brande bedroheten Theil ſeiner Seele ins Leben zuruͤck zu rufen? Statt deſſen verweigert ihr ihm alle Huͤlfe, und laſſet den Ohnmaͤchtigen den moraliſchen Tod dahin ſterben, dem ihr ihn vielleicht wuͤrdet entriſſen haben.
Weit edler und dem Zwecke ſeiner Schule gemaͤßer, handelte jener Weltweiſe zu Athen. Ein Epikurer kam von ſeinem Gelage, die Sinne
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das Herz allzuſehr an ſinnlichen Luͤſten klebt,
um der Vernunft Gehoͤr zu geben; wenn es auf
dem Punkte iſt, die Vernunft ſelbſt mir ins
Garn zu locken; ſo werde es hier vom Schauer
der Gottſeligkeit ergriffen, vom Feuer der An-
dacht entflammt, und lerne Freuden hoͤherer Art
kennen, die auch hienieden ſchon den ſinnlichen
Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den
Kranken vor der Thuͤr abweiſen, der dieſe Ar-
zeney am meiſten bedarf; deſtomehr bedarf, je
weniger er dieſes Beduͤrfniß empfindet, und in
ſeinem Irrſinne, ſich geſund zu ſeyn einbildet?
Muß nicht vielmehr eure erſte Bemuͤhung ſeyn,
ihm dieſe Empfindung wieder zu geben, und
den gleichſam vom kaltem Brande bedroheten
Theil ſeiner Seele ins Leben zuruͤck zu rufen?
Statt deſſen verweigert ihr ihm alle Huͤlfe, und
laſſet den Ohnmaͤchtigen den moraliſchen Tod
dahin ſterben, dem ihr ihn vielleicht wuͤrdet
entriſſen haben.
Weit edler und dem Zwecke ſeiner Schule
gemaͤßer, handelte jener Weltweiſe zu Athen.
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/101>, abgerufen am 16.02.2025.
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