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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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Sie hatte, als sie starb, keine Mutter mehr
am Leben, wohl aber noch einen Vater, dessen
einzigesKind sie war, und von dem sie unsäglich
geliebt wurde. Daß dieser ebenfalls bitterlich
bei ihrem Leichenbrete und ihrem Grabe wein-
te, läßt sich leicht denken. Aber was dem ganzen
Dorfe höchst unerwartet kam, war: daß eben
dieser, am vierten Tage nach jener Beerdigung
vor den Dorf-Gerichten erschien, und seine
Rede alda ohngefähr folgendermaßen anbrach-
te: "Jhr wißt, daß ich eine Tochter verlo-
"ren habe, die mir über alles werth war. Sie
"lebte mit dem Schulzen hier in einer Ehe, die
"mir immer als äußerst glücklich vorkam.
"Jhre Gesundheit schien unverwüstlich zu seyn.
"Jch hofte nichts gewißers, als daß sie mir
"einst die Augen zudrücken solte. Jezt ist sie
"plözlich gestorben; wie mich das schmerzt --
"nein, das läßt sich nicht aussprechen. Aber
"um meinen Jammer recht überschwenglich zu
"machen, seh' ich sie, seit ihrer Beerdigung,
"alle Nächte im Traume. Sie deutet dann

Sie hatte, als ſie ſtarb, keine Mutter mehr
am Leben, wohl aber noch einen Vater, deſſen
einzigesKind ſie war, und von dem ſie unſaͤglich
geliebt wurde. Daß dieſer ebenfalls bitterlich
bei ihrem Leichenbrete und ihrem Grabe wein-
te, laͤßt ſich leicht denken. Aber was dem ganzen
Dorfe hoͤchſt unerwartet kam, war: daß eben
dieſer, am vierten Tage nach jener Beerdigung
vor den Dorf-Gerichten erſchien, und ſeine
Rede alda ohngefaͤhr folgendermaßen anbrach-
te: „Jhr wißt, daß ich eine Tochter verlo-
„ren habe, die mir uͤber alles werth war. Sie
„lebte mit dem Schulzen hier in einer Ehe, die
„mir immer als aͤußerſt gluͤcklich vorkam.
„Jhre Geſundheit ſchien unverwuͤſtlich zu ſeyn.
„Jch hofte nichts gewißers, als daß ſie mir
„einſt die Augen zudruͤcken ſolte. Jezt iſt ſie
„ploͤzlich geſtorben; wie mich das ſchmerzt —
„nein, das laͤßt ſich nicht ausſprechen. Aber
„um meinen Jammer recht uͤberſchwenglich zu
„machen, ſeh' ich ſie, ſeit ihrer Beerdigung,
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[498/0506] Sie hatte, als ſie ſtarb, keine Mutter mehr am Leben, wohl aber noch einen Vater, deſſen einzigesKind ſie war, und von dem ſie unſaͤglich geliebt wurde. Daß dieſer ebenfalls bitterlich bei ihrem Leichenbrete und ihrem Grabe wein- te, laͤßt ſich leicht denken. Aber was dem ganzen Dorfe hoͤchſt unerwartet kam, war: daß eben dieſer, am vierten Tage nach jener Beerdigung vor den Dorf-Gerichten erſchien, und ſeine Rede alda ohngefaͤhr folgendermaßen anbrach- te: „Jhr wißt, daß ich eine Tochter verlo- „ren habe, die mir uͤber alles werth war. Sie „lebte mit dem Schulzen hier in einer Ehe, die „mir immer als aͤußerſt gluͤcklich vorkam. „Jhre Geſundheit ſchien unverwuͤſtlich zu ſeyn. „Jch hofte nichts gewißers, als daß ſie mir „einſt die Augen zudruͤcken ſolte. Jezt iſt ſie „ploͤzlich geſtorben; wie mich das ſchmerzt — „nein, das laͤßt ſich nicht ausſprechen. Aber „um meinen Jammer recht uͤberſchwenglich zu „machen, ſeh' ich ſie, ſeit ihrer Beerdigung, „alle Naͤchte im Traume. Sie deutet dann

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/506>, abgerufen am 05.05.2024.