Weib seinem sexuellen Komplement gegenüber eintreten kann. Ganz gewiß kann nicht irgend ein geschlechtlich begehrtes Individuum durch jedes beliebige andere ersetzt werden. Aber daß diese Anziehung gerade darauf beruht, daß das eine Individuum in dem andern die ihm fehlenden Bruchteile an Männlichkeit oder Weiblichkeit sucht - eine Formel, die Weininger etwa so darstellt, daß ein Individuum mit 3/4 M + 1/4 W sich von einem andern mit 3/4 W + 1/4 M angezogen fühlen muß, - ist wohl eine etwas naive Deduktion, denn Menschen decken einander nicht wie Zahlen. Grüblerisch und im Entdeckerton wird diese Formel lang und breit demonstriert. Als Prämisse setzt sie die angeblich "von niemand zu bestreitende" Tatsache eines "ganz bestimmten sexuellen Geschmackes" voraus, "der jedes Individuum beherrscht" - und der eben auf dieses "Gesetz" zurückzuführen sei. Diese Tatsache ist aber durchaus zu bestreiten. Nicht jedes Individuum hat nur einen einzigen Typus des anderen Geschlechtes zum Korrelate. Es gibt wohl Leute, die ein bestimmtes sexuelles "Ideal" haben, aber sie sind weitaus in der Minderheit; während hingegen den meisten Menschen, soferne sie gesund und unraffiniert sind, oft die verschiedensten Typen nacheinander recht gut gefallen. Auf den alten Gemeinplatz, daß Gegensätze einander anziehen, scheint die fulminante Entdeckung hinauszulaufen; diese Tatsache stimmt aber nicht öfter als etwa das Gegenteil, so daß zur Annahme eines sie bedingenden Gesetzes die Berechtigung fehlt. Eine fast krankhafte Ablehnung jeder Bezweiflung der eigenen Ausführungen und der durch selbstkonstruierte Prämissen erzielten Resultate macht sich in dem Buche ganz auffällig bemerkbar. So heißt es eben in Bezug auf das besprochene "Gesetz" - mit ängstlicher Beflissenheit schon im vorhinein jeden Widerspruch abwehrend: "... es hat nicht das geringste Unwahrscheinliche an sich; es steht ihm weder in der
Weib seinem sexuellen Komplement gegenüber eintreten kann. Ganz gewiß kann nicht irgend ein geschlechtlich begehrtes Individuum durch jedes beliebige andere ersetzt werden. Aber daß diese Anziehung gerade darauf beruht, daß das eine Individuum in dem andern die ihm fehlenden Bruchteile an Männlichkeit oder Weiblichkeit sucht – eine Formel, die Weininger etwa so darstellt, daß ein Individuum mit ¾ M + ¼ W sich von einem andern mit ¾ W + ¼ M angezogen fühlen muß, – ist wohl eine etwas naive Deduktion, denn Menschen decken einander nicht wie Zahlen. Grüblerisch und im Entdeckerton wird diese Formel lang und breit demonstriert. Als Prämisse setzt sie die angeblich »von niemand zu bestreitende« Tatsache eines »ganz bestimmten sexuellen Geschmackes« voraus, »der jedes Individuum beherrscht« – und der eben auf dieses »Gesetz« zurückzuführen sei. Diese Tatsache ist aber durchaus zu bestreiten. Nicht jedes Individuum hat nur einen einzigen Typus des anderen Geschlechtes zum Korrelate. Es gibt wohl Leute, die ein bestimmtes sexuelles »Ideal« haben, aber sie sind weitaus in der Minderheit; während hingegen den meisten Menschen, soferne sie gesund und unraffiniert sind, oft die verschiedensten Typen nacheinander recht gut gefallen. Auf den alten Gemeinplatz, daß Gegensätze einander anziehen, scheint die fulminante Entdeckung hinauszulaufen; diese Tatsache stimmt aber nicht öfter als etwa das Gegenteil, so daß zur Annahme eines sie bedingenden Gesetzes die Berechtigung fehlt. Eine fast krankhafte Ablehnung jeder Bezweiflung der eigenen Ausführungen und der durch selbstkonstruierte Prämissen erzielten Resultate macht sich in dem Buche ganz auffällig bemerkbar. So heißt es eben in Bezug auf das besprochene »Gesetz« – mit ängstlicher Beflissenheit schon im vorhinein jeden Widerspruch abwehrend: »... es hat nicht das geringste Unwahrscheinliche an sich; es steht ihm weder in der
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[6/0012]
Weib seinem sexuellen Komplement gegenüber eintreten
kann. Ganz gewiß kann nicht irgend ein geschlechtlich
begehrtes Individuum durch jedes beliebige andere ersetzt
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daß das eine Individuum in dem andern die ihm fehlenden
Bruchteile an Männlichkeit oder Weiblichkeit sucht – eine
Formel, die Weininger etwa so darstellt, daß ein Individuum
mit ¾ M + ¼ W sich von einem andern mit ¾ W + ¼ M
angezogen fühlen muß, – ist wohl eine etwas naive
Deduktion, denn Menschen decken einander nicht wie Zahlen.
Grüblerisch und im Entdeckerton wird diese Formel lang
und breit demonstriert. Als Prämisse setzt sie die angeblich
»von niemand zu bestreitende« Tatsache eines »ganz bestimmten
sexuellen Geschmackes« voraus, »der jedes Individuum
beherrscht« – und der eben auf dieses »Gesetz«
zurückzuführen sei. Diese Tatsache ist aber durchaus
zu bestreiten. Nicht jedes Individuum hat nur einen
einzigen Typus des anderen Geschlechtes zum Korrelate.
Es gibt wohl Leute, die ein bestimmtes sexuelles »Ideal«
haben, aber sie sind weitaus in der Minderheit; während
hingegen den meisten Menschen, soferne sie gesund und
unraffiniert sind, oft die verschiedensten Typen nacheinander
recht gut gefallen. Auf den alten Gemeinplatz, daß Gegensätze
einander anziehen, scheint die fulminante Entdeckung
hinauszulaufen; diese Tatsache stimmt aber nicht öfter als
etwa das Gegenteil, so daß zur Annahme eines sie bedingenden
Gesetzes die Berechtigung fehlt. Eine fast krankhafte
Ablehnung jeder Bezweiflung der eigenen Ausführungen
und der durch selbstkonstruierte Prämissen erzielten
Resultate macht sich in dem Buche ganz auffällig bemerkbar.
So heißt es eben in Bezug auf das besprochene »Gesetz« –
mit ängstlicher Beflissenheit schon im vorhinein jeden
Widerspruch abwehrend: »... es hat nicht das geringste
Unwahrscheinliche an sich; es steht ihm weder in der
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Meisel-Heß, Grete: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien, 1904, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meiselhess_weiberhass_1904/12>, abgerufen am 05.07.2024.
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