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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt.

Dieser Vorbehalt des Gesetzes wird in den Verfassungsurkunden
auf verschiedene Weise wiedergegeben. Die klassische Form ist die
Aufstellung sogenannter Grundrechte oder Freiheitsrechte,
wonach den Bürgern persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit des Eigen-
tums u. s. w. gewährleistet werden mit ausdrücklichem oder still-
schweigendem Vorbehalt der durch das Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes auch in diese Dinge zu machenden Eingriffe11.

Andere Verfassungen bestimmen, dass ohne Zustimmung der
Stände kein die Freiheit und das Eigentum betreffendes Gesetz er-
lassen werden darf, -- wobei wieder stillschweigend verstanden ist,
dass ohne solches Gesetz auch die vollziehende Gewalt keinen Eingriff
in diese Dinge machen soll12.

Noch weiter gehen mehrere Verfassungen neuerer Zeit, welche
überhaupt nichts von einem solchen Vorbehalte sagen, an der Spitze
die Reichsverfassung. Es werden keine Grundrechte aufgestellt und
wird auch nicht gesagt, für welche Dinge ein Gesetz notwendig sei.
Und das Ergebnis? Niemand hat einen Zweifel darüber, dass auch
die Reichsgewalt Zwang üben und Lasten auflegen, Eingriffe in

ein Gesetz Formen und Schranken gegeben werden? Umgekehrt steht es: die
Regierung wäre in solchen Fällen machtlos und zwar dieses wegen des in der Ver-
fassung enthaltenen Vorbehaltes des Gesetzes. v. Sarwey selbst erkennt an anderer
Stelle diesen Vorbehalt sehr wohl an; a. a. O. S. 25.
11 Es ist nicht richtig zu sagen, dass diese Grundrechte an sich wertlose, un-
mittelbar nicht durchführbare Sätze wären, die erst noch einer "Verwirklichung"
durch "Ausführungsgesetze" bedürften; G. Meyer, St.R. § 217; Bornhak,
Preuss. St.R. I S. 276. Ihr Wert besteht gerade darin, dass ein Gesetz notwendig
wird, wenn etwas geschehen soll. So bedarf es gegenüber dem Verfassungsrechts-
satze: die persönliche Freiheit ist gewährleistet, eines Gesetzes, welches Verhaftung
gestattet, damit man eine solche vornehmen darf, sonst kann sie nicht geschehen.
Dieses Gesetz würden wir dann freilich weder als eine Verwirklichung des Grund-
rechts, noch als ein Ausführungsgesetz dazu bezeichnen. Ganz missverstanden wird
die Bedeutung der Grundrechte bei Arndt, Verord.R. d. d. Reichs S. 67, wenn er
glaubt, dass danach nur Rechtssätze auf anderm Wege als auf dem der Gesetz-
gebung für das vorbehaltene Gebiet nicht erlassen werden sollten. Der Ausschluss
thatsächlicher Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage ist ja viel wichtiger und in
erster Linie gemeint. -- Wenn man die Erklärung der Menschenrechte und alle
späteren Listen von Grundrechten durchgeht, so mag es auffallen, dass darin wegen
der schweren Eingriffe, welche die Justiz vornehmen kann durch Absprechen von
Rechten, Verurteilen, Zwangsanordnung, gar nichts vorbehalten ist. Der Grund
ist der, dass die Notwendigkeit gesetzlicher Grundlagen für diese als selbstver-
ständlich vorausgesetzt wird; die Neuordnung des Staats ist, wie wir gesehen haben
(oben § 5), nur auf die Verwaltung gemünzt. Die entsprechenden Vorbehalte für
das Gebiet der Justiz sind dem Gesetz schon "angeboren".
12 Bayr. Verf.U. Tit. VII § 2; Sachs.-Weimar. Verf.U. § 4 Ziff. 2.
§ 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt.

Dieser Vorbehalt des Gesetzes wird in den Verfassungsurkunden
auf verschiedene Weise wiedergegeben. Die klassische Form ist die
Aufstellung sogenannter Grundrechte oder Freiheitsrechte,
wonach den Bürgern persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit des Eigen-
tums u. s. w. gewährleistet werden mit ausdrücklichem oder still-
schweigendem Vorbehalt der durch das Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes auch in diese Dinge zu machenden Eingriffe11.

Andere Verfassungen bestimmen, daſs ohne Zustimmung der
Stände kein die Freiheit und das Eigentum betreffendes Gesetz er-
lassen werden darf, — wobei wieder stillschweigend verstanden ist,
daſs ohne solches Gesetz auch die vollziehende Gewalt keinen Eingriff
in diese Dinge machen soll12.

Noch weiter gehen mehrere Verfassungen neuerer Zeit, welche
überhaupt nichts von einem solchen Vorbehalte sagen, an der Spitze
die Reichsverfassung. Es werden keine Grundrechte aufgestellt und
wird auch nicht gesagt, für welche Dinge ein Gesetz notwendig sei.
Und das Ergebnis? Niemand hat einen Zweifel darüber, daſs auch
die Reichsgewalt Zwang üben und Lasten auflegen, Eingriffe in

ein Gesetz Formen und Schranken gegeben werden? Umgekehrt steht es: die
Regierung wäre in solchen Fällen machtlos und zwar dieses wegen des in der Ver-
fassung enthaltenen Vorbehaltes des Gesetzes. v. Sarwey selbst erkennt an anderer
Stelle diesen Vorbehalt sehr wohl an; a. a. O. S. 25.
11 Es ist nicht richtig zu sagen, daſs diese Grundrechte an sich wertlose, un-
mittelbar nicht durchführbare Sätze wären, die erst noch einer „Verwirklichung“
durch „Ausführungsgesetze“ bedürften; G. Meyer, St.R. § 217; Bornhak,
Preuſs. St.R. I S. 276. Ihr Wert besteht gerade darin, daſs ein Gesetz notwendig
wird, wenn etwas geschehen soll. So bedarf es gegenüber dem Verfassungsrechts-
satze: die persönliche Freiheit ist gewährleistet, eines Gesetzes, welches Verhaftung
gestattet, damit man eine solche vornehmen darf, sonst kann sie nicht geschehen.
Dieses Gesetz würden wir dann freilich weder als eine Verwirklichung des Grund-
rechts, noch als ein Ausführungsgesetz dazu bezeichnen. Ganz miſsverstanden wird
die Bedeutung der Grundrechte bei Arndt, Verord.R. d. d. Reichs S. 67, wenn er
glaubt, daſs danach nur Rechtssätze auf anderm Wege als auf dem der Gesetz-
gebung für das vorbehaltene Gebiet nicht erlassen werden sollten. Der Ausschluſs
thatsächlicher Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage ist ja viel wichtiger und in
erster Linie gemeint. — Wenn man die Erklärung der Menschenrechte und alle
späteren Listen von Grundrechten durchgeht, so mag es auffallen, daſs darin wegen
der schweren Eingriffe, welche die Justiz vornehmen kann durch Absprechen von
Rechten, Verurteilen, Zwangsanordnung, gar nichts vorbehalten ist. Der Grund
ist der, daſs die Notwendigkeit gesetzlicher Grundlagen für diese als selbstver-
ständlich vorausgesetzt wird; die Neuordnung des Staats ist, wie wir gesehen haben
(oben § 5), nur auf die Verwaltung gemünzt. Die entsprechenden Vorbehalte für
das Gebiet der Justiz sind dem Gesetz schon „angeboren“.
12 Bayr. Verf.U. Tit. VII § 2; Sachs.-Weimar. Verf.U. § 4 Ziff. 2.
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[75/0095] § 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt. Dieser Vorbehalt des Gesetzes wird in den Verfassungsurkunden auf verschiedene Weise wiedergegeben. Die klassische Form ist die Aufstellung sogenannter Grundrechte oder Freiheitsrechte, wonach den Bürgern persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit des Eigen- tums u. s. w. gewährleistet werden mit ausdrücklichem oder still- schweigendem Vorbehalt der durch das Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes auch in diese Dinge zu machenden Eingriffe 11. Andere Verfassungen bestimmen, daſs ohne Zustimmung der Stände kein die Freiheit und das Eigentum betreffendes Gesetz er- lassen werden darf, — wobei wieder stillschweigend verstanden ist, daſs ohne solches Gesetz auch die vollziehende Gewalt keinen Eingriff in diese Dinge machen soll 12. Noch weiter gehen mehrere Verfassungen neuerer Zeit, welche überhaupt nichts von einem solchen Vorbehalte sagen, an der Spitze die Reichsverfassung. Es werden keine Grundrechte aufgestellt und wird auch nicht gesagt, für welche Dinge ein Gesetz notwendig sei. Und das Ergebnis? Niemand hat einen Zweifel darüber, daſs auch die Reichsgewalt Zwang üben und Lasten auflegen, Eingriffe in 10 11 Es ist nicht richtig zu sagen, daſs diese Grundrechte an sich wertlose, un- mittelbar nicht durchführbare Sätze wären, die erst noch einer „Verwirklichung“ durch „Ausführungsgesetze“ bedürften; G. Meyer, St.R. § 217; Bornhak, Preuſs. St.R. I S. 276. Ihr Wert besteht gerade darin, daſs ein Gesetz notwendig wird, wenn etwas geschehen soll. So bedarf es gegenüber dem Verfassungsrechts- satze: die persönliche Freiheit ist gewährleistet, eines Gesetzes, welches Verhaftung gestattet, damit man eine solche vornehmen darf, sonst kann sie nicht geschehen. Dieses Gesetz würden wir dann freilich weder als eine Verwirklichung des Grund- rechts, noch als ein Ausführungsgesetz dazu bezeichnen. Ganz miſsverstanden wird die Bedeutung der Grundrechte bei Arndt, Verord.R. d. d. Reichs S. 67, wenn er glaubt, daſs danach nur Rechtssätze auf anderm Wege als auf dem der Gesetz- gebung für das vorbehaltene Gebiet nicht erlassen werden sollten. Der Ausschluſs thatsächlicher Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage ist ja viel wichtiger und in erster Linie gemeint. — Wenn man die Erklärung der Menschenrechte und alle späteren Listen von Grundrechten durchgeht, so mag es auffallen, daſs darin wegen der schweren Eingriffe, welche die Justiz vornehmen kann durch Absprechen von Rechten, Verurteilen, Zwangsanordnung, gar nichts vorbehalten ist. Der Grund ist der, daſs die Notwendigkeit gesetzlicher Grundlagen für diese als selbstver- ständlich vorausgesetzt wird; die Neuordnung des Staats ist, wie wir gesehen haben (oben § 5), nur auf die Verwaltung gemünzt. Die entsprechenden Vorbehalte für das Gebiet der Justiz sind dem Gesetz schon „angeboren“. 12 Bayr. Verf.U. Tit. VII § 2; Sachs.-Weimar. Verf.U. § 4 Ziff. 2. 10 ein Gesetz Formen und Schranken gegeben werden? Umgekehrt steht es: die Regierung wäre in solchen Fällen machtlos und zwar dieses wegen des in der Ver- fassung enthaltenen Vorbehaltes des Gesetzes. v. Sarwey selbst erkennt an anderer Stelle diesen Vorbehalt sehr wohl an; a. a. O. S. 25.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/95>, abgerufen am 29.11.2024.