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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt.
willens, insbesondere der gesetzliche Rechtssatz ist nicht bloss die
Wirkung des Inhalts, sondern auch der Form des Gesetzes, die
diesem Inhalt erst die Kräfte giebt, so d. h. als Rechtssatz zu wirken.

Und umgekehrt ist auch die formelle Gesetzeskraft nicht unab-
hängig vom Gesetzesinhalt. Das Gesetz hat nur die Fähigkeit, so zu
wirken; ob es von derselben im gegebenen Falle Gebrauch macht,
ist Frage des geäusserten Willens. Damit die rechtssatzschaffende
Kraft des Gesetzes zur Geltung komme, verlangt man, dass der Inhalt
des Gesetzes geeignet sei, einen Rechtssatz vorzustellen, in der
Weise des Rechtssatzes bindend zu werden für die Unterthanen. Mit
der formellen Gesetzeskraft ist es ebenso. Es muss nicht gerade ein
rechtssatzmässiger Inhalt sein; es genügt, dass irgend ein Willens-
inhalt gegeben ist, der rechtlich wirken und gelten soll, ein Ver-
waltungsakt, eine Vollmacht u. s. w. Das gilt dann in Form des
Gesetzes mehr als in Form jeder anderen Erscheinung des Staats-
willens. Politische Thesen, Lehrsätze, Definitionen, auch wenn sie im
Gesetzestext enthalten, so wenig sie Rechtssätze sind, so wenig haben
sie "formelle Gesetzeskraft". Lehrsätze, welche in Gesetzesform ver-
kündet sind, können täglich von jedem Universitätsprofessor wider-
legt und umgestossen werden7.

Auch wenn der Inhalt des Gesetzes dem Gegenstande nach ge-
eignet wäre, den Vorrang des Gesetzeswillens zur Geltung zu bringen,
kommt es ganz wie bezüglich der rechtssatzschaffenden Kraft (vgl.
unten § 7) immer noch darauf an, ob und wieweit das Gesetz im ge-
gebenen Fall von dieser Kraft hat Gebrauch machen wollen. Es
giebt thatsächlich Gesetze, aus deren Inhalt sich ergiebt, dass sie
entgegenstehende Anordnungen eines geringerwertigen Staatswillens
nicht, wie sie könnten, aufheben wollen; und andererseits giebt es
solche, die bereit sind, ihre Bestimmungen durch Anordnungen ge-
ringerer Art abändern zu lassen, Gesetze also, welche die sogenannte
formelle Gesetzeskraft nicht geltend machen. Dann kommt sie nicht
zur Wirkung8.

7 Das Gleiche gilt von allen übrigen Fällen, welche Laband, St.R. I
S. 567, 568, als Beispiel unverbindlichen Gesetzesinhalts anführt; sie sind ebenso
wenig geeignet eine formelle Gesetzeskraft zu bewähren wie eine materielle. Richtig
Jellinek, Ges. u. Verord. S. 338. Laband hat insbesondere den § 1 des
Bayr. L.R. benützt, um die formelle Gesetzeskraft zu erweisen: "Die Rechts-
gelehrsamkeit besteht nicht nur in gründlicher Kenntnis der Rechte, sondern auch
in richtiger Anwendung". Was soll dieser Satz für eine Kraft äussern? Die
Thatsache, dass der Codex Maximilianeus ihn ausgesprochen hat, bleibt natürlich
unzerstörbar; diese "Kraft" hat aber auch das Wort, das ich hier schreibe.
8 Fälle dieser Art bei Laband, St.R. I S. 577; Bornhak, Preuss. St.R.
I S. 492.

§ 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt.
willens, insbesondere der gesetzliche Rechtssatz ist nicht bloſs die
Wirkung des Inhalts, sondern auch der Form des Gesetzes, die
diesem Inhalt erst die Kräfte giebt, so d. h. als Rechtssatz zu wirken.

Und umgekehrt ist auch die formelle Gesetzeskraft nicht unab-
hängig vom Gesetzesinhalt. Das Gesetz hat nur die Fähigkeit, so zu
wirken; ob es von derselben im gegebenen Falle Gebrauch macht,
ist Frage des geäuſserten Willens. Damit die rechtssatzschaffende
Kraft des Gesetzes zur Geltung komme, verlangt man, daſs der Inhalt
des Gesetzes geeignet sei, einen Rechtssatz vorzustellen, in der
Weise des Rechtssatzes bindend zu werden für die Unterthanen. Mit
der formellen Gesetzeskraft ist es ebenso. Es muſs nicht gerade ein
rechtssatzmäſsiger Inhalt sein; es genügt, daſs irgend ein Willens-
inhalt gegeben ist, der rechtlich wirken und gelten soll, ein Ver-
waltungsakt, eine Vollmacht u. s. w. Das gilt dann in Form des
Gesetzes mehr als in Form jeder anderen Erscheinung des Staats-
willens. Politische Thesen, Lehrsätze, Definitionen, auch wenn sie im
Gesetzestext enthalten, so wenig sie Rechtssätze sind, so wenig haben
sie „formelle Gesetzeskraft“. Lehrsätze, welche in Gesetzesform ver-
kündet sind, können täglich von jedem Universitätsprofessor wider-
legt und umgestoſsen werden7.

Auch wenn der Inhalt des Gesetzes dem Gegenstande nach ge-
eignet wäre, den Vorrang des Gesetzeswillens zur Geltung zu bringen,
kommt es ganz wie bezüglich der rechtssatzschaffenden Kraft (vgl.
unten § 7) immer noch darauf an, ob und wieweit das Gesetz im ge-
gebenen Fall von dieser Kraft hat Gebrauch machen wollen. Es
giebt thatsächlich Gesetze, aus deren Inhalt sich ergiebt, daſs sie
entgegenstehende Anordnungen eines geringerwertigen Staatswillens
nicht, wie sie könnten, aufheben wollen; und andererseits giebt es
solche, die bereit sind, ihre Bestimmungen durch Anordnungen ge-
ringerer Art abändern zu lassen, Gesetze also, welche die sogenannte
formelle Gesetzeskraft nicht geltend machen. Dann kommt sie nicht
zur Wirkung8.

7 Das Gleiche gilt von allen übrigen Fällen, welche Laband, St.R. I
S. 567, 568, als Beispiel unverbindlichen Gesetzesinhalts anführt; sie sind ebenso
wenig geeignet eine formelle Gesetzeskraft zu bewähren wie eine materielle. Richtig
Jellinek, Ges. u. Verord. S. 338. Laband hat insbesondere den § 1 des
Bayr. L.R. benützt, um die formelle Gesetzeskraft zu erweisen: „Die Rechts-
gelehrsamkeit besteht nicht nur in gründlicher Kenntnis der Rechte, sondern auch
in richtiger Anwendung“. Was soll dieser Satz für eine Kraft äuſsern? Die
Thatsache, daſs der Codex Maximilianeus ihn ausgesprochen hat, bleibt natürlich
unzerstörbar; diese „Kraft“ hat aber auch das Wort, das ich hier schreibe.
8 Fälle dieser Art bei Laband, St.R. I S. 577; Bornhak, Preuſs. St.R.
I S. 492.
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[73/0093] § 6. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt. willens, insbesondere der gesetzliche Rechtssatz ist nicht bloſs die Wirkung des Inhalts, sondern auch der Form des Gesetzes, die diesem Inhalt erst die Kräfte giebt, so d. h. als Rechtssatz zu wirken. Und umgekehrt ist auch die formelle Gesetzeskraft nicht unab- hängig vom Gesetzesinhalt. Das Gesetz hat nur die Fähigkeit, so zu wirken; ob es von derselben im gegebenen Falle Gebrauch macht, ist Frage des geäuſserten Willens. Damit die rechtssatzschaffende Kraft des Gesetzes zur Geltung komme, verlangt man, daſs der Inhalt des Gesetzes geeignet sei, einen Rechtssatz vorzustellen, in der Weise des Rechtssatzes bindend zu werden für die Unterthanen. Mit der formellen Gesetzeskraft ist es ebenso. Es muſs nicht gerade ein rechtssatzmäſsiger Inhalt sein; es genügt, daſs irgend ein Willens- inhalt gegeben ist, der rechtlich wirken und gelten soll, ein Ver- waltungsakt, eine Vollmacht u. s. w. Das gilt dann in Form des Gesetzes mehr als in Form jeder anderen Erscheinung des Staats- willens. Politische Thesen, Lehrsätze, Definitionen, auch wenn sie im Gesetzestext enthalten, so wenig sie Rechtssätze sind, so wenig haben sie „formelle Gesetzeskraft“. Lehrsätze, welche in Gesetzesform ver- kündet sind, können täglich von jedem Universitätsprofessor wider- legt und umgestoſsen werden 7. Auch wenn der Inhalt des Gesetzes dem Gegenstande nach ge- eignet wäre, den Vorrang des Gesetzeswillens zur Geltung zu bringen, kommt es ganz wie bezüglich der rechtssatzschaffenden Kraft (vgl. unten § 7) immer noch darauf an, ob und wieweit das Gesetz im ge- gebenen Fall von dieser Kraft hat Gebrauch machen wollen. Es giebt thatsächlich Gesetze, aus deren Inhalt sich ergiebt, daſs sie entgegenstehende Anordnungen eines geringerwertigen Staatswillens nicht, wie sie könnten, aufheben wollen; und andererseits giebt es solche, die bereit sind, ihre Bestimmungen durch Anordnungen ge- ringerer Art abändern zu lassen, Gesetze also, welche die sogenannte formelle Gesetzeskraft nicht geltend machen. Dann kommt sie nicht zur Wirkung 8. 7 Das Gleiche gilt von allen übrigen Fällen, welche Laband, St.R. I S. 567, 568, als Beispiel unverbindlichen Gesetzesinhalts anführt; sie sind ebenso wenig geeignet eine formelle Gesetzeskraft zu bewähren wie eine materielle. Richtig Jellinek, Ges. u. Verord. S. 338. Laband hat insbesondere den § 1 des Bayr. L.R. benützt, um die formelle Gesetzeskraft zu erweisen: „Die Rechts- gelehrsamkeit besteht nicht nur in gründlicher Kenntnis der Rechte, sondern auch in richtiger Anwendung“. Was soll dieser Satz für eine Kraft äuſsern? Die Thatsache, daſs der Codex Maximilianeus ihn ausgesprochen hat, bleibt natürlich unzerstörbar; diese „Kraft“ hat aber auch das Wort, das ich hier schreibe. 8 Fälle dieser Art bei Laband, St.R. I S. 577; Bornhak, Preuſs. St.R. I S. 492.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/93>, abgerufen am 25.11.2024.